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Predigt vom 7. August 2005, gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in der Kirche von Zürich-Matthäus

DIE UNGLEICHEN SÖHNE, oder: SIND WIR WAHR?

"Was meint Ihr aber? Ein Mann hatte zwei Söhne. Er trat zu dem ersten und sagte: Mein Sohn, geh, arbeite heute im Weinberg! Der aber antwortete: Ja, Herr, und ging nicht hin. Dann trat er zu dem zweiten und sagte ebenso. Der aber antwortete: Ich will nicht. Später reute es ihn, und er ging hin. Wer von den zweien hat den Willen des Vaters getan? Sie sagten: Der zweite. Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und die Dirnen kommen vor euch in das Reich Gottes. Denn Johannes ist zu euch gekommen mit der Lehre von der Gerechtigkeit, und ihr habt ihm nicht geglaubt. Die Zöllner und die Dirnen aber haben ihm geglaubt; ihr dagegen habt, als ihr es saht, hinterdrein nicht einmal Reue empfunden, sodass ihr ihm geglaubt hättet."
Matthäus-Evangelium 21,28-32

"Was meint ihr?", fragt Jesus keck, und: "Wer von den zweien hat den Willen des Vaters getan?" Er redet nach seinem schönen Einzug in Jerusalem. Er redet nach dem hässlichen Rauswurf der Geschäftemacher aus dem Tempel. Er redet zu den gläubigen Insidern, den Frommen, den Interessierten, den Wissenden, den Schriftgelehrten, der Kerngemeinde. "Was meint ihr?" und: "Wer von den zweien hat den Willen des Vaters getan?"
Die Antwort ist eindeutig: Getan hat den Willen des Vaters derjenige, der hinging und im Weinberg gearbeitet hat. Aber: Es haben beide nicht getan, was sie gesagt haben! Der erste ist sehr höflich, redet seinen Vater elegant mit "Herr" an: "Ja, Herr", und tut nicht, was er sagt; er geht nicht hin. Der andere sagt klipp und klar: "Ich will nicht", aber nachher geht er in sich, es reut ihn, er überlegt es sich anders, und er tut schlussendlich auch nicht, was er gesagt hat; er geht hin und macht seine Arbeit im Weinberg.
Beide tun nachher nicht, was sie vorher gesagt haben. Darin sind die zwei ungleichen Söhne einander gleich. Aber der eine empfindet Reue, und er tut den Willen des Vaters, der andere nicht.

Die beiden ungleichen Söhne, von denen Jesus hier redet, erinnern mich an die drei Söhne in einer bekannten Erzählung des russischen Dichters Leo N. Tolstoi, die ich uns wieder einmal in Erinnerung rufen möchte:
Sie berichtet von drei Frauen, die an einem Brunnen Wasser holten. Nicht weit davon sass ein alter Mann auf einer Bank und hörte zu, wie die Frauen ihre Söhne lobten.
"Mein Sohn", berichtete die erste, "ist so geschickt, dass er alle hinter sich lässt."
"Mein Sohn", meinte die zweite, "singt so schön wie die Nachtigall! Es gibt keinen, der eine so schöne Stimme hat wie er."
"Und warum lobst du deinen Sohn nicht?" fragten sie die dritte, als sie schwieg. "Er hat nichts, was ich loben könnte“, entgegnete sie. "Mein Sohn ist nur ein gewöhnlicher Knabe, er hat nichts Besonderes an sich."
Die Frauen füllten ihre Eimer und gingen heim. Der alte Mann lief langsam hinter ihnen her. Die Eimer waren schwer und die abgearbeiteten Hände schwach. Deshalb machten die Frauen eine Ruhepause, denn die Rücken taten ihnen weh.
Da kamen ihnen die drei Jungen entgegen. Der erste stellte sich auf die Hände und schlug Rad um Rad. Die Frauen riefen: "Welch ein geschickter Junge!"
Der zweite sang so herrlich wie die Nachtigall, und die Frauen lauschten seinem Lied andachtsvoll und mit Tränen in den Augen. Der dritte Knabe, der gewöhnliche, lief zu seiner Mutter, hob ihre Eimer auf und trug sie heim.
Da fragten die Frauen den alten Mann: "Was sagst du zu unseren Söhnen?"
"Welche Söhne?" fragte der alte Mann verwundert, "ich sehe nur einen einzigen Sohn!"

Zurück zu unserem nicht sehr bekannten, aber total genialen Gleichnis von den zwei ungleichen Söhnen. Es geht auf Jesus zurück und ist dem Evangelisten Matthäus bereits in fester Form überliefert, denn er redet sonst nicht vom Reich Gottes, sondern vom Reich der Himmel. Das kleine Gleichnis (das viel Zündstoff enthält!) ist ein grosses Plädoyer gegen die Lippenbekenntnisse und für die Reue. Sehr viel Menschenkenntnis, Verständnis und Zuneigung kommt uns da entgegen. Jesus weiss um das Hin und Her unserer Herzen; er weiss, dass wir auch mal falsch liegen können mit unserer Meinung; er rechnet damit, dass uns Fehler unterlaufen in unserem Leben. Und er weiss es zu schätzen, wenn wir das auch sehen, darüber nachdenken, uns korrigieren. Das ist der Weg zum Reich Gottes, sagt er. So kommst du dazu, den Willen des Vaters zu tun.
Sei selbstkritisch, huldige manchmal dem "Zwei-fel" (da stecken die Worte "zwei" und "falten" drin), geh in dich, lass dich beunruhigen, nur so findest du den rechten Weg!
Der Schriftsteller Julien Green (1900-1998) fragte in seinem ganzen, wechselhaften und langen Leben nach Gott und suchte ihn in allen grossen und kleinen Ereignissen, die er auf vielen tausend Tagebuchseiten festhielt. Ihm verdanken wir die herrlich wahren Worte: "Solange sich in uns Protest gegen uns selbst regt, besteht noch Hoffnung. Nur wenn man sich akzeptiert, ist die Sache verloren. Anders gesagt (wollte ich ein Wortspiel machen): Solange man beunruhigt ist, darf man beruhigt sein." Diese Worte schrieb Julien Green etwa in der Mitte seines Lebens, mit knapp fünfzig Jahren (2. Mai 1949).

Keine anderen Leute mussten sich dermassen harte Worte von Jesus gefallen lassen als jene, deren Welt gemacht schien, die nicht bereit waren, sich selber in Frage zu stellen und dazu zu lernen, die Pharisäer seiner Zeit. Tue ich, was ich sage? Will ich, was ich tue? Bin ich wahr? Was eigentlich wollte ich? Was habe ich bisher in meinem Leben getan? Was will ich ändern? Von wem kann ich lernen? Wem darf ich vertrauen? Diesen zentralen, vitalen Lebensfragen dürfen, ja sollen wir uns immer wieder stellen. Da macht es nichts, ja es ist sogar gut, wenn Zweifel und Reue sich einstellen und Lebenswege sich ändern. Anders kommen wir nicht ins Reich Gottes.
Jetzt fährt Jesus nämlich mit grossem Geschütz auf: "Die Zöllner und die Dirnen kommen vor euch in das Reich Gottes." Muss das ein Affront gewesen sein, ein Schock, dem auch wir Kirchlichen von heute uns zu stellen haben! Es geht nicht um Selbstgefälligkeit und Selbstsicherheit, sondern um die Busse und die Gerechtigkeit, die Johannes der Täufer gepredigt hat und von der sich viele ansprechen liessen, die nicht dazu gehört haben: "Die Zöllner und die Dirnen aber haben ihm geglaubt", sagt Jesus. Die Wortzusammenstellung "Zöllner und Dirnen" findet sich nur an dieser Stelle in der Bibel, aber sie wird gleich zwei Mal ausgesprochen. Diese, von denen man es nicht gedacht hätte, diese haben ihm geglaubt. Etliche haben sich taufen lassen.
Es kann sein, dass Menschen, die es nicht sagen, den Willen Gottes tun. Und andere, die es sagen, tun ihn nicht. Darauf reagiert Jesus allergisch. Er denkt dabei aber nicht an einen Glauben, der nur getan und nicht bezeugt wird, und ebenso wenig denkt er an einen Glauben, der nur bezeugt und nicht getan wird. Beides gehört zusammen: Das Bekenntnis und seine Spuren im Leben, eben: spürbarer Glaube, Glaube, der Spuren hinterlässt.
Hand aufs Herz: Haben wir nicht auch schon gesagt, diese oder jene Person kam aber früher nicht zur Kirche? Darüber freut sich Gott. Über jeden Menschen freut er sich, der die Arbeit in seinem Weinberg neu aufnimmt. Und er freut sich auch über solche, die da schon arbeiten, aber merken, wie sehr sie des Heils bedürfen, sie selber, und nicht nur andere. Das ist der Weg ins Reich Gottes.

Ich glaube, das wollte Jesus mit diesem seltsamen, aber interessanten Gleichnis von den zwei ungleichen Söhnen sagen.


last update: 07.11.2015