DIE FRAGE NACH DEM EWIGEN LEBEN
Eine Predigt von Pfarrer Jakob Vetsch zu Markus 10,17-27,
gehalten am 6. Oktober 2002 in Zürich-Matthäus
Herbst in Wildhaus, Toggenburg
Foto: Stana Vetsch
Als sich Jesus auf den Weg machte, lief einer herzu, warf sich vor
ihm auf die Knie und fragte ihn: Guter Meister, was muss ich tun, damit
ich das
ewige Leben ererbe?
Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut
ausser Gott
allein. Du kennst die Gebote: "Du sollst nicht töten, du sollst nicht
ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis
reden”,
du sollst nicht berauben, "ehre deinen Vater und deine Mutter!”
Er aber sagte zu ihm: Meister, dies alles habe ich gehalten von meiner
Jugend
an.
Da blickte ihn Jesus an, gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eins fehlt
dir.
Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, und du
wirst
einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach!
Er aber wurde traurig über das Wort und ging betrübt hinweg; denn
er hatte viele Güter.
Und Jesus blickte umher und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden
die Begüterten in das Reich Gottes kommen!
Die Jünger aber erstaunten über seine Worte. Da begann Jesus wiederum
und sprach zu ihnen: Kinder, wie schwer ist es, in das Reich Gottes zu
kommen!
Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgeht, als
dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt.
Sie aber entsetzten sich in hohem Mass und sagten zueinander: Wer kann
dann
gerettet werden?
Jesus blickte sie an und sprach: Bei den Menschen ist es unmöglich,
aber
nicht bei Gott; denn bei Gott sind alle Dinge möglich.
Liebe Gemeinde!
"Die haben ja Sorgen!" So mögen wir jetzt denken: Die Frage eines
Reichen nach dem ewigen Leben. Unsere Fragen lauten anders: "Wie wird
unsere Umwelt gerettet? Wie der Weltfrieden gesichert? Wie wird der
Hunger in der
Dritten Welt gesättigt? Wie meistern wir unser Leben in dieser Welt?"
Und da kommt ein Reicher und fragt Jesus: "Was muss ich tun, damit ich
das
ewige Leben ererbe?" Für die Gemeinde damals war diese Geschichte ganz
wichtig: Nicht nur Markus, sondern auch Matthäus und Lukas erzählen
sie, und auch im ausserbiblischen Nazoräer-Evangelium hat diese
Geschichte ihren Niederschlag gefunden. Dort erscheinen zwei Reiche,
von denen sich der
eine vielsagend am Kopf kratzt ..., und Jesus spricht ihm ausdrücklich
das Recht ab, zu sagen, er habe Gesetz und Propheten erfüllt, solange
er sich von seinem Besitz nicht zu lösen vermag!
Warum wohl war diese Begebenheit den damaligen Gemeinden so wichtig,
dass
sie sie vielfältig, aber im Kern gleich, überlieferten? Wollten
sie den Reichen etwas ins Stammbuch schreiben? Nur darum kann es kaum
gegangen
sein, denn es handelt sich hier um eine ausgesprochene
Beispielerzählung: Sie beginnt auffällig mit "einer lief hinzu", sodass
sich jeder mit ihm
identifizieren kann. Vielmehr wird es so sein, dass die Geschichte
Typisches
enthält, aus dem wir viel lernen können!
Sympathisch wird geschildert, wie dem Mann trotz seines Reichtums
und Ansehens
etwas Wichtiges fehlt: Er fühlt sich nicht ausgefüllt, ringt um
Lebenssinn. Er hat scheinbar alles, und doch sucht er nach dem gewissen
Etwas,
nach dem Entscheidenden: Er nennt es "das ewige Leben"; dasjenige, das
nicht
vergeht, nicht enttäuscht, sondern bleibt und glücklich macht,
inneren Frieden schenkt. Er sucht etwas, das über das Alltäglich
und Zeitliche hinausträgt und von bleibendem Wert ist.
Die Antwort von Jesus ist völlig unspektakulär, gewöhnlich: Er verweist
auf die Gebote, auf das normale Leben in der Gemeinde! Kein Geheimtipp,
keine Sonderlehre, sondern einfach die zentralen Aussagen des Alten
Testaments,
die jedes Kind kennt und auswendig gelernt hat.
Das finde ich nun wichtig für uns: Gerade in einer Zeit wie heute, in
der an so vielen verschiedenen Orten nach Wahrheit und Lebenssinn
gesucht wird und Heilslehren wie Kraut aus dem Boden schiessen,
bedeutet es doch etwas,
zu wissen, dass Heil, Lebenssinn und ewiges Leben durchaus in der
Beachtung
der grundlegenden Gebote gefunden werden können! Hier ist das Gute;
hier ist Lebensaufgabe; hier ist Übung, der Weg zu Gott, der Weg des
Lebens.
Erst als Jesus merkt, dass dies beim Fragesteller noch nicht richtig
gegriffen
hat, da zeigt er ihm, wie er diese Gebote für sich ganz persönlich
ganzheitlich erfüllen kann: "Verkauf alles; gib es den Armen, dann
wirst
du einen Schatz im Himmel haben; und folge mir nach!" Jesus stellte dem
Mann
damit nicht eine Spezialaufgabe, sondern er wollte, dass diese Gebote
in
seinem Leben voll greifen und ganz zur Entfaltung gelangen können!
Jeder hat ja irgend etwas, das die Verwirklichung der Gebote in seinem
Leben
hindern könnte, was seinen Zugang zu Gott und Mitmenschen stört, was
noch zwischen ihm und dem ewigen Leben steht: Reichtum, Vorurteile,
Ängstlichkeit,
Ehrgeiz... Von solchen Hindernissen will Jesus befreien. Er möchte uns
damit öffnen für das Leben. Er wünscht uns Beweglichkeit:
"Komm, folge mir nach!" Damit gibt er uns Abstand zu den Sorgen,
schenkt
uns Vertrauen in die Führung des Lebens. Viele meinen, er wolle ihnen
damit etwas vom Leben "abzwacken", aber das Gegenteil ist der Fall: Er
will,
dass wir es eintauschen gegen ein besseres Leben, gegen das ewige
Leben.
Zwei Dinge sind mir bei der Beschäftigung mit diesem Abschnitt
wichtig
geworden.
Erstens, die Art, wie Jesus den Mann anspricht und etwas von ihm
verlangt. Es heisst: "Jesus blickte ihn an und gewann ihn lieb." Es
ging ihm um diesen Mann, den er mit seinen Augen anschaute, um sein
Leben, und nicht um das Durchsetzen
eines Prinzips. Der Mann war Jesus nicht gleichgültig! Aus Liebe hat
er das zu ihm gesagt, nicht aus Neid oder Nörgelei. Jesus war offen
und frei für sein Gegenüber, und darum konnte er ihm einen wirklich
guten Rat geben. Kein billiger Rat, denn damit verknüpft war
schliesslich
eine grosse Einladung: die Einladung, ihm nachzufolgen! Jesus hätte
den Mann mit allen Schwierigkeiten also nicht im Stich gelassen, er
hätte
sein eigenes Leben mit ihm geteilt. Er drehte sich demnach wirklich um
Leben,
um gemeinsames ewiges Leben, das sich an der Liebe entzündet und
unverlierbar
bleibt!
Zweitens: Der Mann konnte nicht gleich zustimmen, es hielt ihn noch
etwas
zurück. Nun hängte Jesus nicht die beleidigte Leberwurst heraus;
er drohte nicht. Er seufzte bloss, wie schwer es ist, ins Reich Gottes
zu
kommen! Die erschrockenen Jünger sprach er mit dem liebevollen Ausdruck
"Kinder" an, der sich sonst nur im Johannes-Evangelium findet. Und er
tröstete
sie: "Bei Gott sind alle Dinge möglich." Nicht seinetwegen ist es
schwer,
das ewige Leben zu erlangen, die Hindernisse liegen bei uns... Jesus
lässt
die Türe offen! Die Geschichte mit Gott ist noch nicht zu Ende; er kann
zum ewigen Leben verhelfen.
Das finde ich das besonders Schöne an dieser Erzählung: Der Schluss
bleibt offen. Jesus verdammt nicht; er setzt seine Hoffnung auf Gott,
der
seine Geschichte mit jenem Mann und auch mit uns fortsetzen wird. Die
Begegnung
von Jesus mit jenem Mann legte wie diese Stunde des Gottesdienstes
einen
Samen, der zu seiner Zeit aufgehen und Frucht bringen wird. Vielleicht
darum
war diese Erzählung den Gemeinden von damals so lieb.
Und wenn unsere Fragen von heute wirklich die sind, wie es um
Umwelt, Weltfrieden
und Hunger in der Welt bestellt ist, dann kann es nicht anders sein,
als
dass die Nachfolge Jesu unsere Herzen dafür nur öffnet, nicht
verschliesst!
Die Erfahrung zeigt, dass es schwierig ist, diese hohen Güter zu
organisieren.
Die Gegenkräfte erscheinen zu mächtig, die Hindernisse sind zu
gross. Es sind letztlich Behinderungen der Seele, genau wie sie in
unserem
Abschnitt aus dem Markus-Evangelium aufgezeigt werden...
Darum setzen wir unsere Hoffnung auf Gott und das Evangelium von Jesus
Christus.
Es befreit und macht beweglich für neue Taten. Es schenkt Vertrauen
in die Kraft Gottes. Es öffnet die Herzen. Es verleiht den Mut, mal
etwas Unkonventionelles zu wagen.
Umwelt, Weltfrieden und die Sehnsucht unzähliger Menschen brauchen
nichts
dringender! Sie brauchen die Augen der Liebe, mit denen Jesus den
Menschen
anschaut, und seine Einladung: "Komm, folge mir nach!"
Amen.
last update: 29.09.2015