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Jesus und seine "normale" Familie
Predigt von Pfarrer Jakob Vetsch, 25.05.2003, Zürich-Matthäus

"Und er ging in ein Haus, und das Volk kam abermals zusammen, so daß sie nicht einmal Speise zu sich nehmen konnten. Als die Seinigen das hörten, gingen sie aus, um sich seiner zu bemächtigen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen.
Und die Schriftgelehrten, die von Jerusalem herabgekommen waren, sagten: Er hat den Beelzebul, und: Durch den Herrscher der Dämonen treibt er die Dämonen aus. Da rief er sie zu sich und sprach in Gleichnissen zu ihnen: Wie kann ein Satan den andern austreiben? Und wenn ein Reich mit sich selbst entzweit ist, kann dieses Reich nicht bestehen. Und wenn ein Haus mit sich selbst entzweit ist, wird dieses Haus nicht bestehen können. Und wenn der Satan wider sich selbst aufgetreten und mit sich entzweit ist, kann er nicht bestehen, sondern es ist aus mit ihm. Niemand aber kann in das Haus des Starken hineingehen und ihm den Hausrat rauben, wenn er nicht zuvor den Starken bindet; erst dann wird er sein Haus ausrauben. Wahrlich, ich sage euch: Alle Sünden und Lästerungen werden den Söhnen der Menschen vergeben werden, so viele sie auch aussprechen; wer aber wider den heiligen Geist lästert, hat in Ewigkeit keine Vergebung, sondern er ist ewiger Sünde schuldig. Denn sie hatten gesagt: Er hat einen unreinen Geist.
Und es kamen seine Mutter und seine Brüder; und als sie draußen standen, schickten sie zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn her. Und sie sagen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen suchen dich. Da antwortet er ihnen und sagt: Wer sind meine Mutter und meine Brüder? Und indem er ringsumher die um ihn Sitzenden ansieht, sagt er: Siehe, das sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter."
(Markus 3,20-35)

Viele Leute wissen wenig über die familiären Verhältnisse von Jesus. Daran sind nicht zuletzt wir Pfarrer schuld, weil wir naturgemäss mehr über den Gottessohn Jesus Christus als über den Menschen Jesus predigen. Heute soll das für einmal anders sein: Unsere Predigt steht unter dem Titel "Jesus und seine ‚normale‘ Familie".
Ja, es gibt sie, die Familie Jesu. Er selber war zwar ehelos, doch er hatte Eltern, Brüder und Schwestern. Es ist beeindruckend, wie unbeschwert die Evangelisten von den Verwandten Jesu schreiben. Obschon kein Zweifel darin geübt wird, dass es sich um eine Zeugung des Heiligen Geistes handelt, bezeichnet Lukas (3,23) Jesus als einen Sohn des Joseph, und auch Matthäus (13,55) nennt ihn ungeniert "des Zimmermanns Sohn". Markus (6,3) sagt direkt "Jesus der Zimmermann", also hatte Jesus den schönen Handwerkerberuf seines Vaters erlernt, was damals durchaus der Üblichkeit entsprach. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Jesus in einen aufbauenden Beruf hinein geboren wurde. Er kannte diese Arbeit genau.
Das war es ja gerade, was aufhorchen liess und sichtlich störte: Dass ein gewöhnlicher Zimmermann aus dem Dorf Nazareth verkündigte, er und Gott seien eins! Das hat ihm und seiner Familie zunächst viel Kummer beschert, denn es trug ihm die Feindschaft der Schriftgelehrten ein. Sie hielten das für eine üble Gotteslästerung und bezichtigten ihn des Bundes mit dem Teufel, wie unsere Bibelstelle aus dem Markusevangelium belegt. Jesus wehrte sich vehement und bezeichnete das als eine Lästerung wider den Heiligen Geist. Er wusste um die Einheit mit dem Vater im Himmel, und diese entpuppte sich als eine Kraft, von der wir Christen heute noch leben!
Jesu Familie selber war sich damals darüber noch nicht im Klaren. Sie dachte, er sei "von Sinnen", das heisst ungeschminkt ausgedrückt, er sei verrückt geworden, ja, er sei übergeschnappt. Markus schildert eindrücklich, wie die Mutter und die Brüder Jesus vor der Auseinandersetzung mit der Führung Israels bewahren wollten, wie sie eigens von Nazareth nach Kapernaum gekommen waren, um ihn zu "packen", wie es wörtlich geschrieben steht. Wer kann ihnen die berechtigten Sorgen nicht nachfühlen? Würden Sie, liebe Zuhörer, nicht auch so handeln?
Die Angehörigen von Jesus bildeten also eine ganz normale Familie. Sie erwiesen sich sogar als recht reizbar, denn Johannes überliefert uns, dass die Brüder Jesus hänselten, er solle sich doch der ganzen Welt offenbar machen! Er solle ruhig gehen und allen zeigen, wer er sei! "Denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn" (Joh. 7,5). Vom Vater Joseph ist da keine Rede mehr. Vermutlich verstarb er früh.
Immer, wenn Jesus sich von den Seinen missverstanden fühlte, ging er auf Distanz und reagierte recht hart: "Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter." Ins gleiche Kapitel gehört, dass er nach Lukas (11,28) eine Frau zurechtwies, welche den "Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, an denen du dich genährt hast", selig pries. Jesus entgegnete ihr vielsagend: "Selig sind vielmehr die, welche das Wort Gottes hören und bewahren!" Jesus selber relativierte die Marienverehrung. Er tat dies jedoch nicht einengend, sondern ausweitend, indem er das Glück all denen zusprach, die den Willen Gottes tun und sein Wort hören und es in ihren Herzen bewahren.
Die Familie von Jesus, eine normale Familie wie die unsrigen! Eine Familie mit einem vorehelichen Kind, das Jesus gleich selber war. Eine Familie mit einem Sorgenkind, das Jesus zweifellos darstellte. Eine Familie mit Spannungen, Hänseleien und Streitigkeiten, wie wir es doch auch zur Genüge kennen.
Der Sache des Evangeliums ist viel besser gedient, wenn wir das so nüchtern betrachten. Nur dann wissen wir, dass Jesus uns auch in diesen Dingen versteht! Und er kommt uns menschlich so nahe; und damit wird Gott zum menschlichen Gott, denn zu diesem Menschen hat Gott "Ja" gesagt! Durch alles Gewühl familiärer Wirren hat er gewirkt und sein Ziel erreicht. Er wird dies auch bei uns tun.
Manches Mädchen, das unverheiratet schwanger wird, darf sich verstanden fühlen. Und gerade die Kirche hat keinen Grund, es zu verstossen! Ihr Herr selber wurde nicht ehelich geboren.
Manche Mutter, die um das Gelingen des Lebens eines ihrer Kinder bangt, darf sich Maria nahe fühlen. Sie begleitete trotz allem ihren Sohn treu bis ans Kreuz. Wie unendlich schlimm hat das damals ausgesehen, und wie reich war nachher die Belohnung für den Schmerz!
Mancher, der den Willen Gottes tut, auf die innere Stimme hört und nicht verstanden wird, darf sich von Jesus verstanden wissen. Er hat das auch durchgemacht und durchgestanden bis zur Freude des letzten Angenommenseins durch Gott!
Der Bericht über die Familie Jesu wäre unvollständig, wenn wir nicht noch einen Blick auf ihr späteres Ergehen werfen würden. Lukas schreibt in seiner Apostelgeschichte gleich im ersten Kapitel, dass nach der Himmelfahrt Jesu die Apostel mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, sowie mit seinen Brüdern einmütig im Gebet verharrten, also auf Pfingsten warteten. Ja, sie waren zum Glauben gekommen, pflegten Gemeinschaft mit den Aposteln und unterstützten sie in ihrer Arbeit. Demnach hatte sich bei ihnen nach der Kreuzigung und der Auferstehung Jesu ein Gesinnungswandel ergeben: Derjenige, von dem sie früher dachten, er sei von Sinnen, bewirkte nun bei ihnen eine Sinnesänderung! Man kann seine Meinung über Jesus, wenn sie nicht richtig war, also auch ändern.
Besonders deutlich wird uns das beim Bruder von Jesus mit dem Namen Jakobus geschildert. Paulus schreibt, der auferstandene Herr Jesus sei diesem wie vielen anderen persönlich erschienen (1. Kor. 15,7). Dieser Jakobus, Petrus und Johannes galten als die drei "Säulen" der Urgemeinde in Jerusalem (Gal. 2,9). Paulus nennt Jakobus als ersten der drei. Er hatte es zu hohem Ansehen gebracht, nicht, weil er der Bruder von Jesus war, sondern weil er sich als besonders standhaft erwies: Seine Knie seien hart geworden wie diejenigen eines Kamels, so sehr habe er auf ihnen zu Gott gebetet! Solches überlieferte der Geschichtsschreiber Eusebius, und es wird ein wahrer Kern dran sein. Jakobus wurde wegen seiner Frömmigkeit hoch geachtet. Er war asketisch veranlagt und hatte den Beinamen "der Gerechte".
Auf einen weiteren, jüngeren Bruder Jesu wird der Judasbrief zurückgeführt. Zwei Enkel dieses Judas sollen eine führende Stellung in der Kirche des Heiligen Landes eingenommen haben.
Von zwei anderen Brüdern Jesu weiss man nur die Namen: Joses (oder Joseph) und Simon. Paulus weist darauf hin, dass sie verheiratet waren wie die Apostel und speziell Petrus (1. Kor. 9,5). Das Zölibat und eine ausgeprägte Marienverehrung tun sich also mit einer biblischen Begründung schwer. Unsere Reformatoren haben daraus die Konsequenzen gezogen.
Die Familie Jesu im Dienste des Herrn, also nun doch plötzlich eine besonders heilige Familie? Ja und Nein!
Ja insofern, als dass sich in ihr Wundersames ereignete: Sie kam nach anfänglichem Unglauben zum Glauben. Aber erst nach der Kreuzigung und der Auferstehung Jesu. Also ist dort das Herzstück unseres christlichen Glaubens. Dort, wo Gott zum Geschundenen, in Not Geratenen und zum Sterbenden Ja sagt und ihn in ein neues Leben ruft. Dort, wo sich ein Licht in dunkelster Nacht entzündet, dort beginnt unser Glaube, dort beginnt Christus Realität zu werden: Im Kind, das im dunklen Mutterleib gebildet wird. Im Menschen, dem sich eine Türe aus dem Elend öffnet. Im zum Glauben Erwachten!
Die Frage, ob die Familie von Jesus eine besonders heilige gewesen sei, ist aber insofern deutlich zu verneinen, als dass dies auch jedem unter uns möglich ist! Der Herr hat es genug deutlich gesagt: Wer den Willen Gottes tut, wer auf sein Wort hört, der ist ihm Bruder, Schwester und Mutter, der sei selig!
Es ist nie zu spät, dies zu tun. Es ist nie zu spät, das Gottesbild zu revidieren, auch das Jesusbild, und zu merken, dass da halt doch etwas daran ist. Jeder darf damit seine eigene Erfahrung machen, die dann ihm gehört, dem zum Glauben, zur Hoffnung, zur Liebe Erwachten. Und er darf sich dann Bruder, Schwester und Mutter Jesu nennen! Weil Gott sein Ja eben auch zu ihm gesagt hat.
Ich finde das etwas ganz Grosses!




last update: 15.08.2015