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Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit


Predigt vom 27. Juni 1993 in Wartau-Gretschins - Pfarrer Jakob Vetsch

500 Jahre Kirchenbau Gretschins 

"Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit."
(2. Korintherbrief 3,17)
 

Liebe Gemeinde!

Schon von weitem riechen wir in diesen Tagen den wundersamen Lindenblütenduft vom Wahrzeichen unsres Kirchdorfes her. Dieser Baum bringt seine Blüten jedes Jahr um die Zeit der Sommersonnenwende herum zur Entfaltung. Bis zur Heiligen Nacht sind  es dann genau sechs Monate, ein halbes Jahr. Unsere Linde vor dem Gotteshaus mit ihrer Blüte stellt also das sommerliche Pendant zum winterlichen Weihnachtsbaum im Haus mit seinen Kerzenlichtern dar.
Der Geburtstag Johannes´ des Täufers (24. Juni) und die Geburt Christi (24. Dezember) werden je am dritten Tag nach der Sonnenwende gefeiert, weil Jesus am dritten Tag von den Toten auferstanden ist. Daran erinnert das dreimalige Betupfen der Stirne des Täuflings mit dem Taufwasser; daran erinnern auch die drei Schlücke beim Trinken des Abendmahlsweines. Diese Zeichen vergegenwärtigen die Auferstehung Christi, das neue Leben, den neuen Menschen, das Neuwerden des Menschen in der Taufe und im Abendmahl, sowie zur Zeit der Jahreshälften. Jeder Gottesdienst ist eine kleine Auferstehungsfeier, eine Feier des neuen Lebens in Christus!
Dem gewaltigen Lindenbaum vor der Türe draussen entsprechen das Jahr durch die kleinen Bäumchen am Fusse des Taufsteins hier drinnen. So ein Baum, der aus der Erde in den Himmel hineinwächst, verbindet unten und oben. Wir sehen: draussen und drinnen, gross und klein, Sommer und Winter, unten und oben - damit ist angezeigt, dass Gottes Arm überall hinreicht. 

Es geht um die Orientierung in Raum und Zeit; und diese Orientierung bietet das göttliche Wort, das Leben schafft, wandelt und erneuert.

Wir haben die Kirche also unter dem wohlduftenden Lindenbaum hindurch betreten. Vormals auf Pestgräbern gepflanzt, ist er ein lebendiges Zeichen der Hoffnung, der Auferstehung, des neuen Lebens in Christus. Damit er sich entfalten, ans Licht wachsen und gedeihen kann, braucht er guten Boden, frische Luft, helle Sonne und genügend Raum. Das ist das, was wir unserer Kirche und ihren Menschen wünschen.

"Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit."

Das griechische Wort für Geist heisst "pneuma", das bedeutet: Luft, Wind, Geist, aber auch Duft, Atem, Leben. "Pneu-ma" - unser Wort Pneu rührt daher, weil´s Luft darin hat... 
Wenn der Apostel schreibt: "Der Herr ist der Geist", dann könnten wir mit diesem Wissen auch so übersetzen: Christus macht den Wind aus; Er bestimmt hier die Atmosphäre; Er gibt die Windrichtung an, in der unser Kirchenschiff segeln soll. Gemeint ist durchaus auch: dieser Herr ist massgebend und keine andere Herren!

Das griechische Wort für Freiheit heisst "eleutheria", und da steckt eigenartigerweise unser Begriff "Leute" darin. Wer zu den eigenen Leuten, zum eigenen Volk gehörte, der war frei; unfrei war der Sklave. Echte Freiheit ist demnach eine kulturelle Leistung und kein primitives Verhalten; frei ist nicht der ungebundene Wilde ohne Verpflichtung, sondern derjenige, welcher gleichberechtigter Partnerschaft und sich gegenseitig stützender Gemeinschaft verpflichtet ist. Wo es anders bestellt ist, flieht der Geist und es fehlt der lange Atem.

Der Gemeinschaft verpflichtete Freiheit - und das Wort Gemeinschaft darf nicht zu eng gefasst werden -, solche Freiheit hat sich an diesem Ort der Verkündigung immer wieder durchgesetzt; und darum durfte er auch stets aufs Neue eine gewisse Ausstrahlung haben... Diese Freiheit wird nicht begriffen als eine Freiheit von allem, welche in die Sackgasse des eigenen Ich führt, sondern als eine Freiheit für etwas, nämlich für die Gemeinschaft, für die Nachfolge Jesu, ungeachtet dessen, was andere denken mögen. 
Ich habe nicht behauptet, dass eine solche Freiheit hier einfach besteht und bestanden habe. Aber ich glaube, diese Freiheit aus dem Geiste des Herrn hat sich an diesem Ort der Verkündigung immer wieder durchgesetzt. Das heisst, man musste und muss um sie kämpfen; man muss für sie einstehen, sie sorgfältig pflegen, Opfer für sie bringen, beten für sie. Man muss diesem Geist des Herrn die Kirchen- und Herzenstüre öffnen. Dann geschieht Grosses...

Das ist auch ganz natürlich so. Denn in der Schrift steht: "Das Fleisch gelüstet wider den Geist, den Geist aber wider das Fleisch." (Gal.5,17). Das ist ein Kampf. Und was steht dieser Freiheit, diesem Geist des Herrn, was steht Christus entgegen? 
Konkret: Ich-bezogenheit, Machtgelüste, Aversionen, Missgunst, Neid, Hass, Rache, Hartherzigkeit, jahrelange Unversöhnlichkeit, generationenweise Pflege von Sippenfehden - alles Dinge, hinter denen die “alte Schlange” steckt. Das sind die Gegner der Entfaltung, die Gegner des Lebens, die Gegner Christi. Diese wollen den Geist des Herrn nicht einlassen und aus dem schönen Lebensbaum einen Krüppel machen. Diese sehen nicht über den eigenen Gartenzaun hinaus, sie denken nicht ans Morgen, geschweige denn an die Ewigkeit. 
Dagegen hat sich der Geist des Herrn und seine Freiheit auch an diesem Ort der Verkündigung immer wieder durchsetzen müssen. Und er hat sich durchgesetzt.
Und seine Frucht ist nach der Schrift: "Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit" (Gal.5,22). Ebenso steht geschrieben: "Wer auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten." (Gal.6,8).

Es geht also nicht nur ums Heute. Es geht ums ewige Leben, das uns mit den Vorausgegangen und mit denen verbindet, die nach uns kommen. Es geht um den Segen Gottes, der aus nichts alles machen kann, und ohne den alles nichts wäre. 
Darum wollen wir nicht die Asche aufbewahren, sondern die Fackel weitertragen! Wir wollen offen sein für den Geist des Herrn und suchen immer wieder die Verbindung nach oben, zu Gott, der uns in Jesus Christus das wahre Leben und seinen Geist schenkt.
Und wir tun das hier an diesem Ort, wo wir uns leiten lassen durch das göttliche Wort und unser Leben von da her stets neu befruchten lassen. Wir öffnen uns dem Wort in der Predigt und in den sichtbaren Zeichen von Taufe und Abendmahl. Jede Taufe ist für uns alle auch eine eigene Tauferinnerung, eine neue Gelegenheit, unser Ja zu Gott zu sagen und den Herrn in unser Leben einzulassen. Jedes Abendmahl ist die Chance eines Neuanfangs, denn der alte Mensch stirbt mit Christus, er aufersteht aber auch mit Christus. Darum wollen wir die beiden Sakramente unserer Kirche fröhlich feiern und am gottesdienstlichen Leben der Gemeinde sorgfältig weiterbauen. Wir tun dies in Treue zu Gott und in Dankbarkeit allen gegenüber, die vor uns während fünf Jahrhunderten an diesem sichtbaren und auch am unsichtbaren Haus des Herrn gebaut haben. Und wir tun es in Verantwortung gegenüber jenen, die nach uns kommen.
Auf diese Weise kann Gott eingreifen in unser Leben; er kann Versöhnung bewirken, Gemeinschaft, Frieden, Innerlichkeit, Kraft stiften. So können die Knospen der Liebe aufbrechen und das Vertrauen wachsen.

Und wenn wir die Kirche durch den wohlriechenden Lindenblütenduft hindurch wieder verlassen, dann denken wir daran, dass dem Herrn diese Früchte des Geistes wohlgefällig sind - und dass es eine grosse Gnade ist, in leichten und in schwierigen Zeiten von ihm gerufen zu werden und ihm folgen zu dürfen.

"Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit."

Amen.


Das Pfingstfest
Predigt: In deine Hand befehle ich meinen Geist


last update: 14.09.2015