Grün
Die Farbe des Wachstums und des Lebens
Im Laufe des Kirchenjahres ist grün die Farbe der ungeprägten,
festlosen Zeiten. Entsprechend vielgestaltig sind die
Deutungsmöglichkeiten.
Unser Farbempfinden ist stark geprägt von Erfahrungen in und mit
der Natur. Grün ist die Farbe der organischen Natur schlechthin. Mit
grün verbinden wir Erfahrungen von Wiesen und Wäldern, es gibt
so etwas wie ein "Wiesengefühl": ausruhen, rasten und träumen;
oder auch ein "Baumgefühl": wachsen und Früchte tragen. Gerade
in Mitteleuropa ist nach einem langen Winter das frische Grün des
Frühlings für uns ein Bild des Wachstums, des Sieges des Lebens
über den Tod. In anderen, heißeren Klimazonen steht grün
für das Leben schlechthin; eine grüne Oase inmitten der Wüste
garantiert das Überleben.
Christliche Mystiker haben im Grün nach tieferer Bedeutung gesucht.
Hildegard von Bingen spricht von der "Grünkraft" des Heiligen Geistes,
aus der alles Leben entspringt. So wie das Grün der Blätter durch
das natürliche Licht der Sonne wird, ermöglicht letztlich das
Licht Gottes alles Leben.
Grün als Farbe der Schöpfung ist schon in der frühchristlichen
Kunst die Farbe des Paradieses - aber auch des Kreuzes. Psalm 23
vermittelt
ein Stück Erinnerung an das "Wiesengefühl" des Paradieses: "Er
weidet mich auf einer grünen Aue". Damit verbindet sich Hoffnung auf
Überwindung des unheilen Zustandes der Welt und allen Todes. Daher
werden auch Darstellungen des Todes Jesu mit der Farbe grün, als
Zeichen
der Kraft zu neuem Leben, gestaltet. In frühmittelalterlichen
Handschriften
ist es oft nur ein grüner Rand um das Bild, oder ein grüner Nimbus
um das Haupt des Gekreuzigten. In unserer Zeit gestaltete Marc Chagall
im Fraumünster in Zürich einen eindrucksvollen grünen Christus.
So weist in den festlosen Zeiten des Kirchenjahres grün immer
wieder auf die lebensspendende und wandelnde Kraft des Heiligen
Geistes,
auf Versöhnung und Barmherzigkeit, auch auf Unterwegssein und Wachsen
zu einem Ziel hin, das noch aussteht. Das gilt sowohl für die ganze
Schöpfung, als auch für den Einzelnen, sich von der "Grünkraft"
des Heiligen Geistes anstecken zu lassen, wie Paul Gerhardt dichtete:
Erwähle mich zum Paradeis und lass mich bis zur letzten Reis an
Leib und Seele grünen. So will ich dir und deiner Ehr allein und
sonstem
keinem mehr hier und dort ewig dienen.
Johannes Sell
last update: 10.08.2015
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