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Predigt vom 29. September 2002 in Zürich-Matthäus, Pfarrer Jakob Vetsch

"Wie gross ist deine Güte"
(Psalm 31,20-25)

Wenn wir diese Psalmworte hören, dann könnten wir denken: Da lobt einer Gott mit Pauken und Trompeten. Da zieht einer mit fliegenden Fahnen ins Haus des Herrn ein. Wie kann der nur Gott so fröhlich loben? Hat er wohl noch gar nichts Schweres erlebt?
Doch! Ein einziger Vers in der Mitte des Abschnitts macht das deutlich: Dort spricht er von der Verzagtheit, die ihn in Zeiten der Not heimsuchte, ja sogar von der Befürchtung, aus den Augen Gottes verstossen gewesen zu sein. Es ist nicht so, dass der Psalmensänger Gott lobt, weil er ihn vor Schwerem bewahrt hätte, sondern weil er ihm aus Schwerem herausgeholfen hat. Also ist sein Lob nicht leichtfertig, sondern gewichtig.
Damit wollen wir uns nun beschäftigen: Wie finden wir aus Nöten heraus. Wie stossen wir durch die Sorgen zum Lobe Gottes vor?
Viele Leute meinen ja, der Gläubige werde vor Schwerem verschont, gleichsam als Lohn für das Gebet. In gewisser Hinsicht stimmt das auch: Der auf Gott Vertrauende wird vor vielem bewahrt, weil er mit seiner Lebensweise das Gute anzieht, und weil ihn Gott mit seinem Schutz umgibt. Das glaube ich fest, und auch der Sänger und Dichter des Psalmes durfte diese Erfahrung machen und in die Worte fassen: "Die Getreuen behütet der Herr."
Trotzdem wird auch der Gläubige nicht vor schwierigen Lebenssituationen verschont. Wie es falsch wäre, wenn wir unseren Kindern jede Schwierigkeit fernhielten, so müssen wir auch als Kinder Gottes mit Enttäuschungen und Nöten umgehen und sie verkraften. Wie aber tun wir das? Wie leisten wir diese seelische Arbeit bei grossen Lebensproblemen? Wie reagieren wir in der Verzweiflung und in Anfechtung, in der Not?
Auch das lässt uns der Schreiber des 31. Psalmes wissen: "Fürwahr, da hast du mein lautes Flehen erhört, als ich zu dir schrie." Ja, der hat sich nicht geschämt, zu Gott zu schreien, mit lauter Stimme zu Gott zu flehen! Ob uns das auch möglich ist, wenn es uns wirklich schlecht geht: zu Gott zu schreien, laut zu ihm zu flehen? Ob es unser Stolz zulässt?
Wie gewaltig muss das ein verstocktes und erschrecktes, ein verkrampftes Herz mit all seinen Kräften lösen, wenn es uns gelingt, all den Schmerz Gott schreiend anheimzustellen! Wie wohl muss es tun, wenn es dann einmal nicht heisst: Reiss dich zusammen, sondern: Ich verstehe dich, komm zu mir! Wie vieles kann das lösen, wie viele Kräfte setzt das frei, wie viel Energie vermag dann wieder ungehindert und in guten Bahnen zu fliessen!
Der Psalmensänger durfte das erleben, und es ist kein Zufall, dass auch Jesus am Kreuz die berühmten Worte vom Psalm 22 flehentlich gebetet hat: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Er ist unser grösstes Vorbild, sich in tiefster Not von Herzen heftig an Gott zu wenden. Und welche Erlösung durfte er erfahren: Die Befreiung vom Tod ins Leben! Diesen Weg zwischen Karfreitag und Ostern hat letztlich auch der Psalmensänger abgeschritten.
Deshalb, und nur deshalb, kann er nun Gott mit Pauken und Trompeten loben. Deshalb kann er nun gleichsam mit fliegenden Fahnen ins Haus des Herrn einziehen und singen: "Gepriesen sei der Herr, denn wunderbare Gnade hat er mir erwiesen in der Zeit der Drangsal." Er hat die Rettung aus der Not an Leib und Seele erfahren dürfen.
Dieser Weg steht auch uns offen. In jeder Situation dürfen wir uns direkt an Gott wenden, und er wird uns Antwort geben. Er wird uns führen auf dem Weg und uns mit fester Hand durch das Leben leiten. Wir werden staunen und Gott dafür loben und preisen.
Das ist auch eine Verpflichtung, die wir als Gemeinde des Herrn wahrzunehmen haben. Denn durch die Jahrhunderte hindurch durften wir seine Gnade und Hilfe, Rettung und Bewahrung erfahren. Wir kennen dies als einzelne im persönlichen Leben, und wir kennen dies als seine Gemeinschaft und Kirche. Viele sind sich dessen zuwenig bewusst, und es gilt die Klage, die Gott dem Propheten Hosea in den Mund gelegt hat: "Sie merkten es nicht, wie ich ihnen half."
Wenn wir jedoch in die Geschichte der Gemeinde des Herrn und in unsere eigene Geschichte mit Gott hineinblicken, so stellen wir fest, dass er uns immer wieder geholfen und auf das Neue eine Chance gegeben hat. Wir leben, wir sind geborgen im Schoss der Gemeinschaft des Herrn und in der Hand des gütigen Gottes. Und weil wir leben und dies wissen, ergreifen wir die grosse Gelegenheit, seinem Namen zu singen und ihn zu preisen! Dieser Segen wird auf uns zurückstrahlen, er wird uns schützen und kräftigen für die Anforderungen des Alltags. Er wird ausstrahlen auf unsere Gemeinden, auf unsere Freunde und Familien, und an entfernte Orte, an die wir vielleicht gar nicht denken. Segen geht rund um die Welt, guten Gedanken in Gott sind keine Grenzen gesetzt.
Es ist schön, dass wir diesen Dienst gemeinsam erfüllen dürfen, dass wir zusammen Gottesdienste feiern und den Herrn für seine Güte preisen dürfen. Er segne diese Stunde. Er segne unser Singen und Loben, unsere Gebete und die Predigt! - Ich darf Ihnen noch einige Worte vorlesen:

Meinst du, es läge auf der Strasse deines Lebens
auch nur ein Stein, ein hindernder, vergebens?
Er mag nun hässlich, gross sein oder klein,
glaub nur, da wo er liegt, da muss er sein.
Gewiss nicht, um dein Weitergehn zu hindern,
gewiss nicht, um dir Kraft und Mut zu mindern.
Nur darum legte in den ebnen Sand
des Weges ihn dir eine gütge Hand,
damit du dir den Stein recht sollst beschauen
und dann mit Gott in gläubigem Vertrauen
darüber reden sollst und sollst ihn fragen,
was er dir mit dem Hindernis will sagen.
Und bist du Gott an jedem Stein begegnet,
so hat dich jeder Stein genug gesegnet.

SteinGedicht.jpg

Niedergeschrieben durch Pfr. Arnold Friederich B. Kausch (1898-1992), Zürich, nach M. Jeesche


last update: 05.11.2015