Heilige
Trost
In meiner Jugend besuchte ich einmal einen Heiligen in seinem
stillen
Hain hinter den Hügeln. Als wir uns gerade über das Wesen der
Tugend unterhielten, sahen wir einen Räuber, der schwerfällig
und erschöpft die Anhöhe hinaufstieg. Als der Räuber den
Hain endlich erreicht hatte, kniete er vor dem Heiligen nieder und
sagte:
"O heiliger Mann, ich suche Trost bei Dir, denn meine Sünden
bedrücken
mich sehr!"
Der Heilige antwortete: "Auch meine Sünden bedrücken mich!"
Der Räuber sprach: "Aber ich bin ein Dieb und Plünderer."
Der Heilige entgegnete ihm: "Auch ich bin ein Dieb und Plünderer."
Der Räuber fuhr fort: "Ich bin sogar ein Mörder, und das
vergossene Blut vieler Menschen schreit in meinen Ohren."
Der Heilige antwortete: "Auch ich bin ein Mörder, und auch in
meinen Ohren schreit das Blut vieler Menschen."
Der Räuber sprach: "Ich habe zahllose Verbrechen begangen."
"Auch ich beging Verbrechen ohne Zahl", erwiderte der Heilige.
Da stand der Räuber von seinen Knien auf und starrte den Heiligen
fassungslos und mit einem sonderbaren Blick an. Nachdem er uns
verlassen
hatte, hüpfte er leichtfüssig den Hügel hinunter.
Ich fragte den Heiligen: "Warum hast Du Dich all der Verbrechen
bezichtigt,
die Du nie begangen hast? Hast Du nicht bemerkt, dass dieser Mann nicht
mehr an Dich glaubte, als er Dich verliess?"
Der Heilige entgegnete mir: "Es stimmt, dass er nicht mehr an mich
glaubte, als er mich verliess. Aber er ging getröstet hinweg."
In diesem Augenblick hörten wir den Räuber von weitem singen,
und das Echo seines Liedes erfüllte das Tal mit Freude.
last update: 10.09.2015
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