Matthäus-Kirche Zürich: Abendgottesdienst vom 2. Juni 2002
HÖRE ISRAEL!
Predigt zu 5. Mose 6,4-5 von Pfarrer Jakob Vetsch
Vielleicht war zu keiner Zeit die Welt so voll von Geräuschen,
Worten und Bildern wie jetzt. Das hat uns nicht nur bereichert, sondern
auch stumpf gemacht, blind und taub für die Feinheiten und das Leise.
Wir reagieren fast nur noch auf starke Reize.
Wir wollen wieder auswählen,
was wir hören,
was wir sehen,
was wir reden,
was wir tun,
damit wir wieder lernen,
zu hören,
zu sehen,
zu reden,
zu tun.
Für einen Moment lade ich Sie in die Welt gedanklicher
Vorstellungskraft
ein. Vor unserem inneren Auge sehen wir eine hohe, gerade Mauer. Sie
verdeckt
uns die Aussicht auf die dahinterliegende Landschaft. In der Mitte der
Mauer erkennen wir einen schmalen, gewölbten Durchlass. Sorgfältig
ist Stein auf Stein gelegt. Wir sehen das Braun der Sandsteinblöcke
und die gerade Linie der Mauer, die sich beidseits der Öffnung
ausstreckt.
Nun taucht ein gebeugter, alter Mann auf. Langsam und hinkend schreitet
er auf das schmale Tor in der Mauer zu. Er trägt längere, weisse
Haare und einen Bart, der bis an die Knie hinunterreicht. Der alte Mann
ist sehr gebrechlich und schwach.
Da holt ihn ein fröhliches, etwa siebenjähriges Kind ein.
Es ergreift seine "abgewerchte" Hand und geleitet ihn zur Öffnung
der Mauer. Plötzlich stolpert der alte Mann und hängt ärgerlich
zurück. Das Kind aber gibt nicht nach, ihn anzutreiben.
Schliesslich gelangen die beiden beim schmalen Torbogen an. Der
Durchgang
ist eng und das Land dahinter nicht zu sehen. Da bekommt der alte Mann
Angst. Er weigert sich, noch einen Schritt weiter zu tun. Mit den
Absätzen
stemmt er sich gegen den Boden und will das Kind immer wieder von sich
stossen, doch dieses ist entschlossen, ihn durch das Tor zu bringen, wo
es selber auch durchgehen will. Mit einemmal erlahmen die Kräfte des
alten Mannes. Von Sekunde zu Sekunde lassen sie nach. Schlussendlich
lässt
er sich von dem Kind durch die Pforte geleiten ... und fort ist das
ungleiche
Paar!
Diese kleine Gedankenspielerei können wir "Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft" nennen. Die Mauer stellt die Gegenwart dar, das Jetzt. Der
Raum vor der Mauer ist die Vergangenheit, das Vorher. Und der
unsichtbare
Raum hinter der Mauer bedeutet die Zukunft, das Nachher.
Der alte Mann verkörpert die Erfahrung und das Kind die Abenteuerlust.
Erfahrung ohne Abenteuerlust ist schwach, zaghaft, flüchtig und
rückständig.
Und Abenteuerlust ohne Erfahrung trägt die Züge des Tollkühnen,
Unbekümmerten und Übermütigen in sich. Wenn aber beide Kräfte
zusammen in Ausgeglichenheit den Marsch in die Zukunft antreten, dann
können
grosse Dinge geschehen!
Ich predige heute über das sogenannte "Höre Israel", ein liturgischer Abschnitt, den im alten Israel jedes Kind auswendig kannte. Sein unvergesslicher Anfang lautet so:
"Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist EIN Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft."
Es fällt auf, wie total dieser Satz gesagt ist, und wie umfassend
er ausgesprochen wird: ganzes Herz, ganze Seele, alle Kraft. Mit
Halbheiten
erreichen wir eben nichts. Es braucht beide ganz, das Herz und die
Seele,
und dazu noch alle Kraft, damit aus der Liebe zu Gott etwas Rechtes
werden
kann. Es braucht das Herz, das ist die Begeisterungsfähigkeit, der
Puls des Lebens, die Abenteuerlust, der Waghals, das Kind in uns. Und
es
braucht die Seele, die Vorsicht, das Sein des Lebens, die Hüterin,
die Erfahrung, der alte Mensch in uns! Ohne das Kind, ohne die
Risikofreude,
hätte der alte Mann das neue Land nicht betreten können. Und
ohne den alten Mann, ohne das Gewissen, wäre es zu schnell abgelaufen
und vielleicht gescheitert.
Um in die neue Welt, das Reich Gottes, einzugehen und neue Räume
zu erschliessen, braucht es beides, Herz und Seele, Unruhe und Stille,
und es braucht beides ganz, sowie alle Kraft dazu. Der alte Mann
strengte
sich an, bis er erlahmte, und das Kind gab nicht nach. Durch Widerstand
und Ergebung erprobt sich jede Kraft, und diese Energie lässt den
Menschen reifen und wachsen auf Gott hin, sofern diese Energie auf Gott
ausgerichtet ist.
Die gute Nachricht, die frohe Aussage, das Neue, das Evangelium also
von unserem Text besteht darin, dass wir Gott lieben sollen und dürfen.
Es wären ja auch andere Empfindungen Gott gegenüber denkbar:
Angst, oder Furcht, wie es in vielen Stellen der Bibel noch heisst, man
soll Gott fürchten. Unsere zentrale alttestamentliche Aussage, ein
traditioneller Ruf, der jeweils den Kult einzuleiten pflegte, sagt aber
einfach: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben..." Einfach
"lieben",
und daraus ergibt sich alles weitere. Denn echte, wahre Liebe
beinhaltet
die eigentlich gemeinte "Furcht", die "Ehrfurcht". Was wir wirklich
lieben,
das wissen wir zu "schätzen", und vor dem empfinden wir immer auch
Ehrfurcht.
Wir spüren aus diesen Worten des fünften Buches Mose eine
eigenartige Nähe zum Neuen Testament, ja wir spüren gewissermassen
eine neutestamentliche Wärme aus ihnen. Denn Jesus brachte uns ja
den lieben Gott, den liebenden Gott, der Liebe gibt und auch Liebe
wünscht.
Wenn es da heisst: "Der Herr, unser Gott, ist EIN Herr", dann glauben
wir
Christen daran, dass derselbe Herr uns in Jesus Christus erschienen
ist.
Was heisst dann "lieben"? Es kann heissen: aufgeben, woran wir zu
sehr
hängen, sich befreien; aufgeben, sich selber, also dienen. Es kann
heissen: finden, was wir schon lange suchten, den Nächsten; finden,
zu sich selber, also glücklich werden. Es kann heissen: sein, nicht
allein, sondern geborgen in Gott und seiner Gemeinschaft; versehen mit
einer Aufgabe, die wir erfüllen dürfen.
Und wen gilt es zu lieben? Gott, Gott auch im Bruder Jesus Christus,
im geringsten Bruder und in der geringsten Schwester auch, und, wie
Jesus
das Liebesgebot ausdrücklich erweiterte, nicht nur den Nächsten,
sondern auch den Feind. Das ist einzigartig und findet sich nur im
Christentum.
Das ist die totale Liebe, von der Intensität als auch von der Weite
her! Alle geistigen Kräfte des Menschen will sie in Anspruch nehmen
und ausfüllen. Allen Menschen soll sie zukommen.
Die Bibel weiss, dass nur dadurch ein fruchtbares Klima entsteht. Sie
weiss, dass Hass, Rache und Neid den Menschen vergiften. Sie weiss,
dass
kein Leid grösser ist als jenes, das Menschen sich im täglichen
Leben zufügen.
Lasst uns deshalb die Liebe wählen und uns für Gott entscheiden,
nicht halb-, sondern ganzherzig und mit ganzer Seele und mit aller
Kraft!
last update: 28.09.2015