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Kränkung

Eine gute Herkunft hat ihm geschenkt: die Anlage zur Freundlichkeit, zum Vertrauen. Seine gute Sehnsucht ist gewesen: das barbarische Verlangen nach Ungleichheit, höchster Vernunft und Einsicht. Hinzuerworben hat er nur die Erfahrung, dass die Menschen sich an einem verginge, dass man selbst sich auch an ihnen verging und dass es Augenblickte gibt, in denen man grau wird vor Kränkung - dass jeder gekränkt wird bis in den Tod von den anderen. Und dass sich alle vor dem Tod fürchten, in den allein sie sich retten können vor der ungeheuerlichen Kränkung, die das Leben ist. 
Ingeborg Bachmann, Das dreissigste Jahr

Wir alle schleppen Kränkungen aus unserer Kindheit mit. Ihr Gift hat Langzeitwirkung. Noch immer schreibt der 50jährige gegen die schlechte Deutschnote von damals an. Der alte Krieger baut immer wieder Fronten auf, die er dann im Durchmarsch nimmt, bis er erschöpft zusammenbricht. Immer noch sucht die Frau die Vaterliebe bei neuen Männern oder will die Anerkennung der Mutter doch endlich noch ergattern durch immer engmaschigere Fürsorge um die Altgewordene ... Kränkungen beschädigen unser Selbstwertgefühl, sie können aber auch unseren Widerstand aktivieren und uns Auswege suchen lassen. Der grösste Jammer ist wohl, wenn wir die niedermachenden Stimmen von damals nicht mehr unterscheiden können von uns selbst und wir uns selbst dauernd kleinmachen. Dann ist ein Sortieren mit therapeutischer Hilfe nötig. Meist aber wissen wir, woher unsere Macke kommt, fallen aber immer wieder in den alten Fehler zurück. Wohl wahr: Nichts ist schwerer, als sich selbst zu erziehen. Doch du, ich, wir sind es doch wert, etwas glücklich zu werden. Wir sollen aufhören, uns selbst immer wieder ein Bein zu stellen. Wenn ich nicht für mich bin - wer dann? Auch die anderen hätten viel davon, wenn ich von meinen Kränkungen genesen würde. Ich müsste sie nicht mehr weitergeben. Ich könnte neuen Menschen neu begegnen, hätte Platz für neue Freuden und mal endlich neue Fehler. 
Traugott Giesen, aus: Christsein praktisch. 100 Proben Glaubensmut; Radius-Verlag, (c) Stuttgart 1992, Seite 108f.


last update: 26.08.2015