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Maipredigt von Pfarrer Jakob Vetsch

BLÜH AUF, GEFRORNER CHRIST!

18. Mai 2003, gehalten in der Matthäuskirche und in der Wasserkirche von Zürich

"Freuet euch im Herrn allezeit; nochmals will ich sagen: Freuet euch! Lasset eure Freundlichkeit allen Menschen kundwerden! Der Herr ist nahe. Sorget euch um nichts, sondern in allem lasset im Gebet und Flehen mit Danksagung eure Bitten vor Gott kundwerden! Und der Friede Gottes, der allen Verstand überragt, wird eure Herzen und eure Gedanken bewahren in Christus Jesus."
Philipperbrief 4,4-7

Wo steht das nur geschrieben, dieses "Blüh auf, gefrorner Christ"? Stammt es aus einem Lied, das wir kennen sollten? Oder ist es der Titel eines bekannten Gedichtes?
Ich kann Sie beruhigen, diese eindrücklichen Worte habe ich nicht gekannt, bis sie mir einmal eher zufälligerweise in die Hände fielen. Da haben sie mich aber angesprochen, und so entschloss ich mich, sie zum Anlass dieser speziellen Mai-Predigt zu nehmen.
Im Christenleben brauchen wir ja hin und wieder auch einen Mai, einen Frühling, einen Neubeginn! Wir brauchen einen Neuanfang, der die Glaubenstüren wieder öffnet und einen frischen Wind, einen neuen Geist und neue Lebenskraft einströmen lässt! Möge dieser Maisonntag solches in unserem Leben bewirken, auf dass es ein Leben mit Qualität (die Bibel sagt: ewiges Leben) werde!
Jetzt möchte ich Ihnen aber die Fortsetzung des Aufrufs "Blüh auf, gefrorner Christ" verraten. Sie lautet:

"Blüh auf, gefrorner Christ;
Der Mai steht vor der Tür,
Du bleibst ewig tot,
Blühst du nicht jetzt und hier."

Diese schönen Zeilen stehen im cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius (1624-77) geschrieben und stammen also aus dem 17. Jahrhundert.
Sonne, Licht, Wärme, Blüten, Früchte; das waren schon immer Bilder, in denen sich unser christlicher Glaube ausdrückt. Angelus Silesius fordert den Christen auf, das zu tun, was die Pflanzen jetzt tun: sich der Sonne zuwenden, sich öffnen, aufblühen. Die Blume kann sich öffnen, weil die warmen Sonnenstrahlen auf sich fallen. So ist es auch beim Menschen: Ausserhalb von ihm muss etwas geschehen, wenn er sich innerlich verändern soll. Er braucht die Lebenssonne!
Gerhard Tersteegen hat einige Jahrzehnte nach Silesius das Kirchenlied "Gott ist gegenwärtig" verfasst, das wir oft zu Beginn des Gottesdienstes zu singen pflegen. In der fünften Strophe nimmt er die besagten Bilder auf seine Weise auf. Ich lese sie:

"Du durchdringest alles;
lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen
willig sich entfalten
und der Sonne stille halten,
lass mich so, still und froh,
deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen."

Das sind zarte Texte christlicher Mystik, Worte der Innerlichkeit. Wenige Menschen bringen noch Verständnis für ihren Inhalt auf. Viele aber sind es, die sich nach solchem Glück insgeheim sehnen!
"Deine Strahlen fassen und dich wirken lassen", ja, wie macht man das denn? Wir wissen’s nicht mehr recht!
Der Schlagersäger Peter Maffey hat einst das Lied von der Eiszeit gesungen, in der wir leben. Wir sind ja soetwas wie eine Kühlschrank-Generation (eben "gefrorne Christen", die um jeden Preis "cool" bleiben müssen!), und hungern doch so sehr nach menschlicher Wärme! Wir möchten das Leben mit aller möglichen Technik alleine (!) meistern, und schaffen’s doch nicht ...
"Deine Strahlen fassen und dich wirken lassen", wir haben Energieprobleme nicht nur im grossen Stil, wir haben sie auch im kleinen. Der einzelne Mensch kennt sie auch. Er ist auf der Suche nach der Quelle der Lebenskraft und der Lebensfreude. Und er sucht an allen möglichen und unmöglichen Orten sein Glück.
"Deine Strahlen fassen und dich wirken lassen", früher kannten sie die Technik dazu! Sie versammelten sich regelmässig an einem guten Ort, wo sie beteten, Lieder sangen und die Worte der guten Botschaft Jesu Christi hörten. Und sie schauten dabei nach Osten, nach dem Orient, dem Sonnenaufgang. Ja, sie orientierten sich an der Sonne der Gerechtigkeit. Sie öffneten weit ihre Herzen dem Buch der göttlichen Offenbarung, und sie lasen auch das Lebensbuch der Natur. Sie strebten an, in der Harmonie mit Gott und seinem Werk zu leben. So fand auch der Einzelne immer wieder seine Mitte, seinen Ursprung und sein Ziel in Gott und seiner Gemeinschaft.
"Deine Strahlen fassen und dich wirken lassen", das sind sozusagen Energie-Gottesdienste, in die wir uns hineinbegeben, und aus denen wir von neuem unsere Lebenskraft schöpfen, weil wir unser kleines Lebenslicht am grossen Licht des Lebens entzünden. "Gott ist Licht", weiss der Apostel Johannes.
Es ist das Licht, das unsere Lebensblume zur Entfaltung, zur Blüte und zur Farbenpracht bringt. Vielleicht am Rosenstock mit seinen Dornen, die auch dazugehören. Der Pessimist beklagt sich über die Dornen am Rosenstock, der Optimist freut sich an den Rosen am Dornenstrauch! Es ist die Kraft des Lichtes, das die Früchte reifen lässt, und es heisst, "an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen". Es ist das Licht des Lebens, das uns hier und jetzt geschenkt wird in den wertvollen Momenten der Herzenswärme, der Güte, der Würde, der Freiheit, der Liebe aus Gott, die unvergänglich ist!
Im Meditationsbändchen "Wenn du suchst" habe ich das  so ausgedrückt:

"Wasser aufnehmen,
verwurzelt sein.
Luft atmen,
am Ort bleiben.
Licht einfangen,
gerade stehen.
Wärme speichern,
sich entfalten.
Ausharren,
ein Stück Ewigkeit erfahren."

"Ein Stück Ewigkeit" schenkte einst Johann Wolfgang von Goethe aus tiefer Liebe einer Blume, wie er es uns im Gedicht mit der Überschrift "Gefunden" kundtut:

"Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,
Da sagt es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?

Ich grub’s mit allen
Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ich’s
Am hübschen Haus.

Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort."

Es ist an uns, aufzutauen, aufzublühen. Und es ist an uns, uns einzusetzen für die Freiheit und die Würde der Kinder Gottes in diesem Leben!



last update: 30.08.2015