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Nichts - "N-ich-ts!"


Predigt zum Dreifaltigkeitstag (Trinitatis), 6. Juni 2004,
in der St. Anna-Kapelle und in der Matthäuskirche Zürich,

von Pfarrer Jakob Vetsch

"O welch eine Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Entscheidungen und unausdenkbar seine Wege!
'Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass es ihm wieder vergolten werden müsste?' Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm hin sind alle Dinge. Sein ist die Ehre in Ewigkeit! Amen."
Römerbrief 11,33-36

"Gott schläft im Gestein,
träumt in der Pflanze,
fühlt im Tier
und denkt im Menschen."

So sagt es eine alte Überlieferung: " ... und denkt im Menschen." Gott ist gegenwärtig in seiner Schöpfung. Besonders stark und lebendig ist Er dies im Menschen, in dem Er denkt. Solche Gedanken Gottes drücken sich auch aus, sie teilen sich mit, und sie tun es vor allem auch durch das Mittel der Sprache.

Gesprochene und geschriebene Sprache ist Klang und Bild zugleich. Das gilt ganz speziell für die schöne altertümliche Sprache der Bibel, das Hebräische, die Sprache des Alten Testaments. Sie ist eine einfach und systematisch aufgebaute Sprache, deren Buchstaben noch quadratisch anmuten und deren Zeilen von rechts nach links geschrieben und gelesen werden. Diese Hirtensprache wurde zur Sprache der Heiligen Schrift, die auf der ganzen Welt Verbreitung fand.
Wenn wir die Sprache nicht nur zur Verständigung gebrauchen, sondern in sie hinein hören, da sie Ausdruck der Gedanken Gottes ist, dann teilt sie uns Weisheit und altes Wissen mit, lebendigen Glauben aus der Beziehung zu Gott, der dem offenen Herzen zur Kraftquelle wird.
Es ist ein tiefes Geheimnis, woher solche Lebenskraft stammt und wie es zu den Erscheinungen dieser Kraft in der Schöpfung gekommen ist. Der alte Glaube sagt, Gott habe die Welt aus dem Nichts erschaffen. In einer apokryphen Schrift des Alten Testaments (2. Makkabäer-Buch 7,28 ff.) lesen wir es besonders schön:

"Ich bitte dich, mein Kind, schau empor, sieh Himmel und Erde an und alles, was darin ist, und bedenke, dass Gott dies aus dem Nichts erschaffen hat und dass das Menschengeschlecht ebenso entstanden ist."

So redet dort eine Mutter zu ihrem Sohn, der vom Tyrannen bedroht ist. Und sie folgert daraus, dass Gott auch ein Leben nach dem Tod schaffen wird. Wenn er diese Welt aus dem Nichts schaffen konnte, dann kann er auch eine neue Welt schaffen, die wir jetzt noch nicht mit Augen sehen. Deshalb verfügt diese Mutter, die ihren geliebten Sohn, wie sie sagt, neun Monate unter dem Herzen getragen, drei Jahre gestillt und bis zu diesem Alter gehegt und ernährt hat, deshalb verfügt sie über die unerhörte Kraft, ihren Sohn mit den Worten zu trösten:

"Fürchte dich nicht, erdulde den Tod, damit ich dich zur Zeit des Erbarmens samt deinen Brüdern wiedergewinne."

Sie glaubt an ein Wiedersehen, an ein "Wiedergewinnen" nach dem Tod! Sie weiss, dass ihr Kind nicht verloren geht. Sie glaubt daran, dass über dem Tod das Leben ersteht, weil Gott das Sichtbare auch aus dem Unsichtbaren, das ganze Leben aus dem Nichts erschaffen hat!
Ihr Zuspruch verleiht dem Jüngling die Kraft, dem Tyrannen zu trotzen und seinem Glauben treu zu bleiben:

"Worauf wartet ihr noch? Ich gehorche nicht des Königs Gebot; dem Gebot des Gesetzes gehorche ich, das unsern Vätern durch Mose gegeben worden ist."

Wenn aus dem Nichts solches emporkommt, dann ist das Nichts nicht ohne Qualität. Es ist der Ort, aus dem Gott wirkt. Es ist der Ort und die Haltung, aus der neues Leben erwachsen kann; der Ort auch, von dem Mitteilungen an uns Menschen gelangen. Ein uralter Satz besagt:

"Zeichen sind Rufe aus dem Nichts."

Ja, aus dem Nichts drängt das Leben zu uns. Es möchte Form annehmen, sich im Seienden ausdrücken. Der Sinn, das Wort Gottes sucht seine Gestalt, es will geboren werden und ewig leben! Aus dem Nichts erstehen die Zeichen des Lebens, die Bäume, die Flüsse, die Pflanzen, die Tiere und auch der Mensch.

Erschütternd wirkt da die Andeutung, die fast beiläufige und nur dem offenen Herzen vernehmbare Mitteilung der Sprache, auf welche der jüdische Mystiker Friedrich Weinreb (1910-1988) hingewiesen hat, dass das hebräische Wort für "nichts" dieselben Buchstaben aufweist wie das Wort "ich":

nichts.jpg

nichts: ajin
ich: ani

Im ursprünglichen Wortlaut die gleichen drei Buchstaben mit anderer Reihenfolge, zwei Wörter, ein ähnliches Schriftbild und ein verwandter Wortklang: "nichts" (ajin) und "ich" (ani).
Erregend nun auch die Entdeckung, dass sich das Wort "ich" mühelos aus dem deutschen Wort "nichts" herausschälen lässt, denn es ist darin enthalten: "n-ich-ts"! Es scheint hier, als ob das Nichts unser Ich umfange, als ob unser Ich aus dem Nichts erstehe.

n-ich-ts.jpg

Ist das nun Zufall oder Fügung? Ist es eine Mitteilung der Sprache? Denkt hier Gott im Menschen? Ist es altes Wissen? Ein "Wörtlein" von Gott an uns Menschen, die wir doch manchmal meinen, "alles" und nicht "nichts" zu sein?
Darüber will ich nicht streiten. Aber ich nehme es wahr, ich stelle es fest, und möchte diesen interessanten Zusammenhang, diese Entsprechung, diese Ähnlichkeit fruchtbar machen für unser Leben. Das darf uns nachdenklich stimmen und betroffen machen: Die Sprache der Bibel und auch unsere deutsche Sprache rücken das "Ich" verdächtig nahe ans "Nichts" heran! Ist das nicht etwas, das wir in unserem tiefsten Innern eigentlich schon immer geahnt haben? Ein weiteres alttestamentliches apokryphes Buch, Jesus Sirach, spricht es in seinem 41. Kapitel im Vers 11a offen aus:

"Ein Nichts ist der Mensch
nach seinem Leibe."

Von uns allein aus sind wir ein Nichts. Wie wir gesehen haben, ist das aber keinesweg ohne Qualität, denn wir haben das Nichts als den Ort kennen gelernt, wo Gott ganz besonders aktiv werden möchte, wo sein Geist wohnen und wirken will. Wir haben das Nichts als den Ort erkannt, aus dem Gottes Geist Leben und lebendige Erscheinung, seine sichtbare Welt der Dinge schafft! Wir sind Schalen, in denen Gottes Licht leuchten will, Häuser, in denen Gottes Kraft wirken will, Tempel, in denen sein Geist wohnen möchte.
Dies wusste der Schreiber des Buches Jesus Sirach, aus dem ich nun auch noch den zweiten Teil des genannten Verses 41,11 lese:

"Ein Nichts ist der Mensch
nach seinem Leibe;
aber des Frommen Name
wird nicht ausgetilgt."

Der Name des Frommen bleibt ewig, denn sein "Nichts", sein "Ich", seine Persönlichkeit ist gefüllt und mit unvergänglichem Leben erweckt durch Gottes Geist!

Es gibt zwei Bibelstellen, die das gleiche sagen:

"Alle Götter der Heiden sind Nichtse,
aber der Herr hat die Himmel geschaffen."

Wir lesen das in 1. Chronik 16,26 und in Psalm 96,5. Gott ist Geist, und alle, die sich durch Seinen Geist beseelen (oder sagen wir es doch so: be-geist-ern!) lassen, leben mit Ihm und spüren, was Er schafft!
Das ist etwas ganz Grosses, das ist nicht mehr "nichts", das macht aus uns wahrhaft Lebendige, ewig Lebende. Das verleiht uns die unverlierbare Menschenwürde. Das erfüllt uns mit Liebe, die wir dankbar entgegen nehmen und die wir freudig weiter reichen. Das macht das Leben lebenswert. Das lässt uns ausharren und mitarbeiten am Bau der Menschenliebe Gottes, an Seinem Reich, hier schon, wo wir leben und wohnen.

Dieser Geist Gottes erfülle uns persönlich, er erfülle unsere Gemeinden und Kirchen, auf dass wir glauben, hoffen und lieben, auf dass wir leben aus der Kraft, die Gott einem jeden und einer jeden von uns und uns allen zusammen bereit hält.
Denn davon hängt es ab, ob alles nichts ist, oder ob aus nichts alles entstehen darf. Davon hängt es ab, ob das "Ich" "nichts" ist, oder ob es von Gott erfüllt zur Persönlichkeit werden darf. Davon hängt es ab, ob wir die Königswürde der Kinder Gottes haben dürfen oder nicht.

Komm, du Geist des Lebens,
erfülle unsere leeren Herzensschalen,
erwecke uns zum Leben.
Nimm Wohnung in uns,
entfalte deine Kraft unter uns.

Komm, du Geist des Lebens,
Gott, der du schläfst im Gestein,
der du träumst in der Pflanze,
fühlst im Tier
und denkst im Menschen.

Deine Gedanken wollen wir sein,
lebendige Gedanken der Versöhnung und Liebe,
des Friedens und der Gerechtigkeit.
Und lass deinen Gedanken Flügel wachsen,
dass sie jeden Ort im Himmel und auf Erden
durchdringen zu unserem Heil und Deinem Lob!

Amen.


last update: 22.08.2015