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Josephine Stadlin

Aus einem Vortrag von Elisabeth Joris

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Josephine Stadlin (1806-1875) stammte aus einer liberalen bildungsbürgerlichen Zuger Familie. Sie war die älteste von 9 Kindern und wurde, als ihr Vater früh starb, zur Haupternährerin der Familie. Zur Näherin ausgebildet unterrichtete sie zuerst im Hause junge Mädchen im Nähen, dann auch noch im Lesen und Schreiben. Sie liess sich dann im Pestalozzi-Institut in Yverdon bei der Pestalozzischülerin Rosette Niederer-Kasthofer zur Lehrerin ausbilden. Leiterin eines privaten Töchterinstitutes war auch ihre Tante Elise Rüepp-Uttiger, genannt «s'Mutterli», in Sarmenstorf. Diese war ebenso Tante von Augustin Keller, dem späteren Erziehungsdirektor des Kantons Aargau. In ihrem Hause verkehrte der bekannte und angesehene Schulpolitiker Heinrich Zschokke. Daher wurde Josephine Stadlin später von Keller in den Aargau gerufen, wo sie zuerst an der öffentlichen Töchterschule zukünftige Lehrerinnen ausbildete. Dann richtete sie im ehemaligen Stift Olsberg ein eigenes Institut ein. Schliesslich aber zügelte sie das Institut an den Zeltweg in Zürich. Das Institut war bald das angesehenste der Stadt, nicht zuletzt auch weil sie hier Frauen zu Lehrerinnen ausbildete. Zur Vergrösserung der Schule und der Einrichtung eines eigentlichen Seminars mit Musterschule übersiedelte sie dann an die Zürichbergstrasse 4, in das grosse Haus zum Sonnenbühl. Josephine Stadlin machte die Maxime «... denn Kinder sind keine geschlechtsneutralen Wesen» zu ihrem Programm, mit dem sie den Anspruch der Frauen auf eine Ausbildung zur Lehrerin legitimierte. In ihrem Aufruf zur Gründung eines schweizerischen Lehrerinnenseminars anlässlich des 100. Geburtstags von Pestalozzi schrieb sie: «Alle Frauen sind geborene Erzieherinnen, der Aufgabe, aber keineswegs der Befähigung nach.» Frauen müssen also dazu erzogen werden und diese Erziehung kann dem «zur Jungfrau sich entwickelnden Mädchen» nur durch eine Frau vermittelt werden. Es müssen also Lehrerinnen her. Sie beruft sich auf die natürliche Pflicht der Frau, aber der Natur muss nachgeholfen werden, Geschlecht muss eingeübt werden - «doing gender» würde man das heute nennen.

Josephine Stadlin war dem Gedankengut Pestalozzis verpflichtet, dessen erste grosse Biographie sie nach der Schliessung des Instituts verfasste. Thomas Scherr dagegen, der Gründer und erste Leiter des Zürcher Seminars in Küsnacht, ging es vor allem um die Professionalisierung des Lehrerberufs, um den Kopf.

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Für Stadlin stand nicht nur Hand und Herz für die Mädchen im Zentrum , sondern zusätzlich auch der Kopf, also der ganze Pestalozzi. Ihr Schulprogramm erwies sich denn auch als ambivalent, ebenso emanzipatorisch wie auch geschlechterzentriert. Gemütsbildung war von grösster Bedeutung: «Das Mädchen muss früh und beständig zur Bescheidenheit, Einfachheit, Genügsamkeit, Zur Ordnung und allwärts zu häuslichem Sinn erzogen werden.» Aber ebenso zentral war die Geistesbildung: Denn Frauen waren Mütter und Gattinnen von Staatsmännern, wirkten so indirekt in öffentlichen Belangen mit. Daher wurden in ihrem Institut auch geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Fächer unterrichtet. Sie selber interessierte sich sehr für wissenschaftliche Fächer, auch für Chemie. Sie war übrigens zusammen mit ihrer Freundin Elise Sidler, verh. Schweizer, die erste Hörerin an der Universität Zürich. Die für damalige Zeiten alles andere als übliche Grenzüberschreitung legitimierte sie mit geschlechtsspezifischen Ansätzen, d.h. dass diese Erfahrungen schliesslich den zukünftigen Müttern und Gattinnen einerseits, den zukünftigen Erzieherinnen und Lehrerinnen anderseits zu Gute käme. Weil sie sich nicht nur auf den Unterricht in weiblichen Arbeiten beschränkte, war übrigens ein Grund für die an ihrem Institut geäusserte Kritik. In einem anonymen Leserbrief hiess es:

»Das eigentliche Lehren und Unterrichten ist mehr der Beruf des Mannes, als des Weibes. Die Natur selbst hat durch Feststellung der männlichen und weiblichen Eigenthümlichkeiten den Wirkungskreis jedes Geschlechts vorgezeichnet und abgegrenzt. .... Man lese z.B. verwahrloste, arme Mädchen, die sonst im Laster untergehen würden, auf der Gasse zusammen, und gebe ihnen eine einfach-tüchtige Erziehung, dass sie ehrbare christliche Jungfrauen, fleissige Hauswirthinnen, kurz brave Schweizerfrauen werden, so ist damit wahrhaftig mehr, als durch Stiftung eines Lehrerinnen-Seminars, im Sinne Vater Pestalozzi's gehandelt.» (abgedr. aus Penelope, bei Meyer, Seminararbeit bei Joris, Uni Basel, SS96, 43).

Nach anfänglichem Erfolg blieben die Schülerinnen zunehmend weg, sodass Stadlin das Seminar schloss. Wie wichtig ihr Anliegen aber war, zeigten auch die Statistiken. 1864 kamen im Kanton Zürich auf 576 Lehrer in öffentlichen Schulen, 5 Lehrerinnen.


last update: 26.08.2015