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Wach auf, der du schläfst

Ewigkeitssonntag, 23. November 2003, Kirche Zürich-Matthäus
Eine Predigt von Pfarrer Jakob Vetsch


"Wach auf, der du schläfst,
und steh auf von den Toten,
so wird Christus dir als Licht aufgehen!"
Epheserbrief 5,14

Bei vielen unserer Heimgerufenen denken wir: Das wäre schön, wenn sie nur schlafen würden und wir sie nochmals sehen könnten! Doch die Zeit, in der wir leben, und die Ewigkeit, in die sie eingegangen sind, trennen uns schmerzlich von ihnen. Die Endgültigkeit ist es, die uns weh tut, die Lebensgeschichte eines unserer Lieben, die zu Ende geschrieben wurde auf dieser Erde, die Liebe, die wir erhalten und gegeben haben, und auch was unvollendet geblieben ist und nicht mehr möglich war. All das bewegt uns und harrt der Verarbeitung, bis wir versöhnt sind mit dem Schicksal des Todes und im Vertrauen auf Gott Ja sagen können.

Das ist oft ein langer Weg, den auch andere vor uns gegangen sind: Einst, nach der Zerstörung des Tempels, wanderten die Jünger der Rabbiner mit ihren Lehrern in die Nähe des Tempels und weinten dort.
"Wann kommt die Erlösung?", fragten sie.
Ihre Lehrer anworteten: "Die Frage kommt immer in der dunklen Nacht, wenn Erlösung unmöglich erscheint und das Gefühl aufkommt, nie wird es wieder hell werden. Aber dann kommt das Morgengrauen, erst langsam, ein weisser Strich am Horizont, und dann, plötzlich, ein Streifen Gold. Und mit dem ersten Sonnenstrahl ist die Dunkelheit der Nacht gebannt. So ist es mit der Erlösung. Sie fängt langsam an, fast unmerklich, aber dann kommt sie schneller und schneller, und plötzlich ist die ganze Welt im hellen Licht!"

Ein weisser Strich am Horizont, ein Streifen Gold am Morgen des Ewigkeitssonntages, wo wir unserer Toten gedenken, das wäre doch Hoffnung für uns und unsere Vorausgegangenen. Ein Lichtstrahl in die Dunkelheit von Trauer und Tod heisst: Wir und sie sind nicht verloren! Und es kann ein Wiedersehen geben. Wir und sie sind gehalten im Licht des Lebens und in der Liebe Gottes, der durch Jesus Christus den Tod besiegt hat. Was immer uns zustösst, wie elend und dunkel es auch sein mag in uns drin und um uns her, gerade dann, wenn es am dunkelsten ist, scheint das kleinste Licht am hellsten.

"Dein Licht kommt", hat der Prophet Jesaja (60,1) seinem Volk in ärgster Bedrängnis lakonisch zugerufen. Und ist es nicht so, dass die Not schon nachlässt, wenn wir eine Hoffnung haben und vertrauen dürfen, ja wenn wir mit einemmal die Gewissheit in uns tragen dürfen, dass Hilfe wirklich unterwegs ist?
"Dein Licht kommt", es ist unterwegs so sicher wie die Sonne am Morgen der Nacht, die dir zu gegebener Zeit leuchtet, dich zum neuen Tag ruft und zu neuen Taten anspornt!

Ein weisser Strich am Horizont, ein Streifen Gold, der flüstert dir leise zu: Ich meine auch dich, Du bist gerufen. Das Leben braucht dich, und Du sollst das Leben haben. Du bist einzigartig, es kommt dir eine Aufgabe zu, bleibe nicht allein! Denn Dein Leben kennt einen Sinn, der Dir je und je neu aufgehen darf. Er vertreibt die trüben Gedanken der sorgenvollen Nacht. Er nimmt Dir den Missmut und die Lustlosigkeit; er schenkt Dir Lebensfreude und Frohsinn; er gibt Dir positives Denken und Heiterkeit, welche Dir über die Bitternisse des Lebens hinweg hilft.
Ein gesunder Abstand zum Leben und auch zur eigenen Person (man könnte auch sagen etwas Bauernwitz) bringt uns dem Lebenssinn oft näher als tierischer Ernst. Es liegt eine tiefe Weisheit darin, dass wir nur jene Menschen ernst nehmen dürfen, die auch einmal über sich selber lachen können. Nicht umsonst spricht der Volksmund vom "goldigen Humor": Im guten Humor liegt eben Gold! Er wird getragen vom Vertrauen in den Lebensgrund, der uns trägt; vom Vertrauen in Gott, der uns führt, wenn wir uns nur führen lassen von ihm und immer wieder auf seine Stimme hören im Lärm der Zeit.

Ein weisser Strich am Horizont, ein Streifen Gold auch in unseren Beziehungen. Das wäre das Ende des Unverständnisses, des Hasses und der Verachtung zwischen Menschen, Religionen und Völkern.
Nur das Licht aus einer anderen Welt kann diese Finsternis der Herzen, die wir in diesen Tagen wieder ganz besonders spüren, ausleuchten und jenes Licht in uns aufstrahlen lassen, das uns gut tut und unseren Mitmenschen zugute kommt, das nicht tötet, sondern Leben fördert. Dieses Licht ist das Bewusstsein, dass wir alle Kinder des einen Gottes sind, Schwestern und Brüder auf seiner Erde. Es kann nur sein, dass wir uns der Gotteskindschaft nicht bewusst sind, sie nicht annehmen. Es kann sein, dass sie überschüttet und verdeckt ist, oder dass wir sie elend verraten haben, weil wir besser sein wollten!
Gott aber bietet uns Hand, indem er durch Jesus Christus die Welt mit sich versöhnte. Diese Versöhnung wirklich annehmen heisst, den Frieden finden und ihn den Mitmenschen weiterreichen, weil wir gar nicht anders können, wenn wir diesen Frieden gefunden haben. Wem die grosse eigene Schuld vor Gott vergeben wurde, der wird seinen Mitmenschen auch die kleine Schuld vergeben: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben unsern Schuldigern", heisst es ursprünglich im Gebet des "Unser Vater" (Matthäus 6,12).

Es ist bald vorweihnächtliche Zeit, eine Zeit, wo wir in uns gehen. Im Kirchenjahr sprechen wir von einer Busszeit, einer Zeit der Vorbereitung des grossen Festes. Da ordnen wir noch verschiedenes, da gibt es vieles aufzuräumen. Darf dies auch in unserer Beziehung zu Gott sein? Und in unseren Beziehungen zu Menschen, mit denen wir leben und die uns nahe stehen?
Versöhnung und Vergebung tun auch dem eigenen Herzen wohl: Nur ein versöhnter Mensch kann ein glücklicher Mensch sein. Ein unversöhnter, hartherziger Mensch stürzt sich früher oder später ins eigene Unglück. Er wird ernten, was er gesät hat.
Die Vorweihnachtszeit eignet sich besonders gut, sein Verhältnis zu Gott und Menschen für sich selber zu klären und Schritte einzuleiten. Sie eignet sich, das Leben in Ordnung zu bringen und es wieder zu geniessen, denn es ist schon so, wie es der Volksmund längstens weiss: "Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen." Oder wie die Bibel (Psalm 127,2) sagt: "Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf", oder wie einer übersetzt hat: "Den Seinen gibt der Herr Schlaf."

Es ist nämlich nicht der Schlaf der Nacht, der wohlverdiente, aus dem uns der alte Weckruf herausholen will:

"Wach auf, der du schläfst,
und steh auf von den Toten,
so wird Christus dir als Licht aufgehen."

Es ist der schlimme Schlaf der Gottes- und Lebensferne. Der Schlaf des Egoismus, der Bequemlichkeit, des Besserwissens, des Selbstmitleides, des Geizes, einfach alles, was uns daran hindern kann, ein gottgefälliges Leben zu führen und ein Licht für andere zu sein. Es ist der Tod mitten im Leben. Das Ersticken in einem schweren, selbstgewobenen Gewand von Eitelkeit und Flüchtigkeit; ein Gewand, das jahrelang gewoben und gepflegt und getragen wurde; ein Gewand, an das man sich gewöhnt hat und das einem lieb geworden ist; ein Gewand, das man mit der Zeit für die eigene Persönlichkeit hält. Der Mensch aber sitzt viel tiefer! Er ist unabhängig von der Hektik, vom Geschwätz und dem verworrenen Gebrause dieser Welt. Es ist der innere, neue Mensch, der geboren werden will. Und den alten Menschen dürfen wir ablegen wie ein altes Gewand.

"Herr, du weisst, wie arm wir wandern
durch die Gassen dieser Welt,
wenn der Glanz von einer andern
nicht auf unsre Schritte fällt.
Leuchte du mit deinem Schein
in die dunkle Welt hinein.

Herr, du weisst, wie leicht wir sinken
auf den Wegstein müd und schwach,
wenn nicht deine Sterne blinken
und uns sagen: Du bist wach!
Leuchte drum mit deinem Schein
in die dunkle Welt hinein."
Adolf Maurer, 1917

Ein weisser Strich am Horizont, ein Streifen Gold, diese Schatzsuche lohnt sich! "So wird Christus dir als Licht aufgehen." Goldene Streifen der Liebe, Licht des Lebens. Goldene Streifen der Barmherzigkeit, Licht der Versöhnung. Goldene Streifen des Heils, Licht des Friedens.
Der innere, der eigentlich Mensch, so wie Gott uns gedacht hat, darf wach werden. Das Wesentliche, das Wesen darf aufstehen vom Tod. So werden wir schon heute ein Stück weit in die Ewigkeit hineingeboren: eine Geburt aus der Verantwortungslosigkeit in die Verantwortung hinein. Dies ist unser Leben, das wir vielleicht nicht selbst gewählt, aber angenommen haben aus Gottes Hand. Und wir lieben dieses Leben trotz allem, was quer stehen mag. Das Leben ist ein Gasthaus, und Gott ist der Wirt. In Freund und Feind erscheint er uns als der Weingeber, denn "denen, die Gott lieben, wirken alle Dinge zum Guten mit." (Römer 8,28)
Wir wollen nicht versäumen, diese Einladung zum Leben anzunehmen und zu unserem persönlichen Leben und zu unserer Gemeinschaft im Herrn zu stehen.

Ich schliesse mit einem Wort von Khalil Gibran:
"Das Leben ist wie die Dunkelheit, die zu Ende ist, wenn die Sonne des Tages hervorbricht."



last update: 25.08.2015