CHRISTentum.ch
Ein Portal für das Christentum in der Schweiz



Predigt von Pfr. Jakob Vetsch, gehalten am 3. Juli 2004 in der Wasserkirche von Zürich

VOM WEINSTOCK UND DEN REBEN

"Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner, der alle unfruchtbaren Triebe abschneidet. Aber die fruchttragenden Reben beschneidet er sorgfältig, damit sie noch mehr Frucht bringen. Ihr gehört schon zu diesen guten Reben, weil ihr mein Wort angenommen habt. Bleibt fest mit mir verbunden, dann wird mein Leben in euch sein! Denn so wie eine Rebe nur dann Früchte tragen kann, wenn sie am Weinstock ist, so werdet auch ihr nur Frucht bringen, wenn ihr mit mir verbunden bleibt.
Ich bin der Weinstock, und ihr seid die Reben. Wer bei mir bleibt, in dem bleibt mein Leben, und er wird viel Frucht tragen. Wer sich aber von mir trennt, kann nichts ausrichten. Wer ohne mich leben will, wird wie ein unfruchtbarer Trieb abgeschnitten und weggeworfen. Die verdorrten Triebe werden gesammelt, ins Feuer geworfen und verbrannt. Wenn ihr aber fest mit mir verbunden bleibt und euch nach meinem Wort richtet, dürft ihr von Gott erbitten, was ihr wollt; ihr werdet es erhalten. Gott wird dadurch verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und ihr euch so als meine wirklichen Jünger erweist."
Johannes-Evangelium 15,1-8

Liebe Gemeinde!

Haben Sie gewusst, dass es Noah war, der den Wein entdeckte? Das neunte Kapitel des ersten Buches Mose berichtet, er sei der erste gewesen, der Weinreben anpflanzte. Und da er schliesslich vom Wein trank, bekam er einen Rausch und lag nackt in seinem Zelt. Sein jüngster Sohn namens Ham (es muss ein besonders neugieriger und vorwitziger gewesen sein) erspähte ihn; und seine Brüder Sem und Japhet übernahmen es, den Vater wieder zuzudecken. Sie taten dies sehr rücksichtsvoll, indem sie sich von hinten heranschlichen und sein Gewand über ihre Schultern auf ihn warfen!
Als Noah erwachte und vom Geschehenen erfuhr, war er sehr ungehalten darüber, dass ihn sein Jüngster unbekleidet gesehen hatte, und zur Strafe machte er ihn zum Knechte seiner beiden Brüder. Wir haben hier ein Beispiel, dass Vorwitz und Ehrlichkeit im Leben manchmal Bestrafung finden.

Die uralte Geschichte von der Entdeckung des Weines erinnert mich an eine Begebenheit aus der Neuzeit, die dem Basler Wissenschaftler Hoffmann, dem Entdecker des LSD, widerfahren ist.
Zu medizinischen Zwecken experimentierte er in seinem Labor mit chemischen Substanzen. Als er später beim Heimweg auf seinem Velo unterwegs war, veränderte sich plötzlich seine Wahrnehmung. Er hatte sich einen Rausch eingehandelt und fuhr durch die Strassen seiner Heimatstadt, als ob er eine ausgedehnte Pintenkehr hinter sich gehabt hätte! Das LSD erwies sich dann allerdings für die Anwendung in der Medizin als ungeeignet, da seine Wirkung viel zu stark und gefährlich war. Es wurde aber leider zur Modedroge der sechziger und siebziger Jahre.

Ob uns diese Berichte von Entdeckungen gleich von Anbeginn daran mahnen, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Den Wein zu trinken, oder vom Wein getrunken zu werden? Die beiden Möglichkeiten: Das Leben zu meistern, oder dem Leben zu erliegen?
Alles Schöne und Gute, ja das Leben selbst, ist eine Frage des Masses, des Ausgleichs der Kräfte, der Harmonie. In der Balance wirken Schöpferkräfte fruchtbar, und sonst gereichen sie zu Bedrohung, Zerstörung und Tod. In diesem ganzen Kräftespiel ist der Mensch ein Teil und nicht der Maßstab aller Dinge. Selbst die Erde ist eben gerade nicht das Zentrum des Kosmos, sondern ein Teil desselben, wenn auch ein köstlicher! Und Religion erschöpft sich nicht in Ethik und Moral, sondern sie rührt an die Wurzeln des Seins, und sie will den Menschen an den Lebensstrom anschliessen. Das ist "religio", Beziehung, Verbindung zur immensen und unerschöpflichen Kraftquelle des Lebens, zu Gott!

So verstehe ich die tiefen Worte Jesu vom Weinstock und den Reben. Gott ist der Weingärtner des Lebens, der aussondert, was nicht verhält, und der reinigt, was nützlich ist. Wir dürfen zurücklassen, was uns am echten Leben hindert, und wir sollen pflegen, was uns zum Leben führt. Wir dürfen uns der aufbauenden und positiven Arbeit hinwenden und sollen uns nicht lange mit unergiebigen Dingen beschäftigen. Wir sollen uns nicht abhalten lassen vom Leben, das Arbeiten und Feiern, Festen und Fasten bedeutet.
Wer einen Weingarten besorgt, der schaut Gott ins Handwerk und ist Lehrling im Rebberg des ewigen Lebens, sofern er die Augen öffnet für die Zusammenhänge und für das, was hinter diesem Bilde steht. Sein Meister ist Gott, der ihn liebevoll anleitet in der Schule des Lebens.
Die Reben ziehen die Nahrung aus der Mitte des Weinstocks und der Tiefe der Erde; ein mütterliches, weibliches Bild. Nun sagt aber Jesus, er sei der Weinstock! Es verbinden sich Weibliches und Männliches, es versöhnen sich Gegensätze zum Strom des Lebens. Es verbinden sich Nahrung der Erde und Licht der Sonne. Es versöhnen sich Himmlisches und Irdisches. Das wirkt Christus in unserem Leben!

Wer in dieser Nähe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm. Er bleibt angeschlossen an den Strom des Lebens, angeschlossen an der Kraft der Liebe, des Lichtes und der Weisheit. Er trägt Frucht. Er ist nicht Mitte, aber er bezieht seine Lebensenergie aus der Mitte. Er lebt und weiss sich in einem Leben, das nicht vergeht, sich wohl aber wandelt.
Keine Pflanze wird so stark beschnitten wie die Rebe und trägt nachher so viel Frucht. So ist die Rebe Sinnbild für Leid und Freude, Tod und Auferstehung, wie wir es auch im geheimnisvollen "Stirb und Werde!" in der Natur beobachten. Ihre Frucht bringt das Abendmahlsgetränk hervor, das wir jeweils mit drei Schlücken im Gedenken an Jesu Tod und Auferstehung am dritten Tag trinken. Damit wird symbolisch vor Augen geführt, dass wir mit Christus zwar sterben, aber mit Christus auch auferstehen und täglich neugeboren werden! Mit Christus verlieren wir unsere Kräfte, mit Christus werden sie uns aber auch neu gegeben, bis die Kraft ihre Vollendung in Schwachheit erreicht (2. Korintherbrief 12,9).

Nicht umsonst tritt der Wein immer wieder in unser Leben. Er ist ein Bild für das Leben selbst, das einmal leicht und bekömmlich, einmal schwer und träge schmeckt, mal süss, mal bitter. Durch beides will Gott uns reifen lassen, auf dass wir Unvergänglichkeit und Ewigkeit erlangen.
Zum Schluss stellen wir uns unseren Lebensbaum als Rebe vor. Wir sind nicht die Rebe selbst, wir sind ein Schoss unter anderen Schossen. Wir beziehen die Nahrung aus der Mitte und sind dem Lichte zugewandt. Wir verspüren den Saft aus dem Weinstock, die Wärme der Sonne und den wohligen Schatten der breiten Blätter. Wir sind gehalten im Leben. Wir sind geborgen und frei. Und wir sind zur vollen Frucht bestimmt.

Amen.


last update: 03.07.2004