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Predigt vom 29. Juni 2003 in Matthäus-Zürich,
von Pfarrer Jakob Vetsch
DAS WEIZENKORN
Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es
allein;
wenn es aber erstirbt, trägt es viel Frucht.
Johannes-Evangelium 12,24
Nicht sterben, und allein bleiben; sterben und viel Frucht tragen. Ist
dies
nicht paradox? Widerspricht dies nicht dem natürlichen Lebensempfinden?
Jawohl, wir haben es hier mit einem scheinbaren Widerspruch zu tun,
gegen
den wir uns aufbäumen mögen. Und doch: Es ist eine tiefere Weisheit,
ein göttlicher Wille, den Jesus interessanterweise mit einem Beispiel
aus der Natur illustriert, obschon es so unnatürlich anmutet: Das
Weizenkorn
muss in die Erde fallen und sterben, dann trägt es viel Frucht, die
wiederum Leben hervorbringt.
Nicht sterben, und allein bleiben; sterben und viel Frucht tragen. Da
kommt
uns in den Sinn: Ja, wir können uns unter vielen Leuten befinden und
uns dennoch allein fühlen; wir können aber auch allein sein und
uns dennoch geborgen fühlen im Lebensganzen und verbunden mit Menschen.
Es gibt eine andere, tiefere Dimension im Leben, die hinter dem
Sichtbaren
steht und wirkt und die gar die unerbittliche Grenze des Todes
überwindet.
Wer am Leben festhält, verliert es; und wer das Leben hingibt um
Christi
willen, der gewinnt es. Das ist schwer! Es braucht viel Vertrauen,
Vertrauen
in die lebenserweckende Kraft Gottes.
So ein Weizenkorn ist hart und klein. Es erscheint völlig
unbegreiflich,
dass in einem kleinen Korn der gesamte Bauplan für eine Ähre enthalten
ist! Der Plan aber kann nur zur Ausführung gelangen, und das Leben kann
sich nur entfalten, wenn sich das Korn zuvor in die dunkle Erde begibt,
ja
wenn es stirbt. Dann wird es durch das Geheimnis von Gottes Lebenskraft
erweckt,
und es ersteht zu neuem Leben. Es trägt Frucht!
Paulus hat dies als Beispiel für die Auferweckung der Toten aufgeführt
(1. Korintherbrief 15,35-44), und Jesus selbst nannte es im Hinblick
auf
seinen Tod und sagte dazu: "Die Stunde ist gekommen, dass der Sohn des
Menschen
verherrlicht wird." (Johannes-Evangelium 12,23)
Keine Hoffnungslosigkeit, keine Resignation und kein Festklammern an
der
sichtbaren Welt des Lebens. Stattdessen tiefes Vertrauen in den
Schöpferwillen
und die Erlösungskraft Gottes, die hinter dieser Welt der sichtbaren
Dinge steht und auch weit darüber hinausreicht. Im Buch der Offenbarung
(21,1-5) lesen wir: "Siehe, ich mache alles neu!" Das steht an der
Stelle
geschrieben, wo berichtet wird, dass Gott eine zweite Welt schafft, in
welcher
"der Tod nicht mehr sein wird, kein Leid noch Geschrei noch Schmerz
wird
mehr sein; denn das Erste ist vergangen."
Noch aber gibt es das Leid, da wir dem Werden und Vergehen unterworfen
sind,
das Schmerzen hervorruft, und weil wir so vieles nicht verstehen
können.
Das ganze Leben ist eigentlich ein einziges Vollenden, ein Sterben und
Neuwerden,
ein Wandel. Manchmal geht es "rund", wie wir zu sagen pflegen, und ein
Lebenskreis
hat sich harmonisch geschlossen. Manchmal aber bleibt etwas offen, ein
Gespräch
hat nicht stattgefunden, ein Abschied war zu plötzlich, oder die Angst
durfte nie gezeigt, die Tränen konnten nie geweint werden. Wir
schleppen
es als Unerledigtes mit, es meldet sich vielleicht in Träumen, oder
es bricht mitten in unseren alltäglichen Beziehungen auf. Und wir
wissen
oft gar nicht, warum wir so betroffen, so verletzt, wütend oder
niedergeschlagen
reagieren. Oft binden solche Erlebnisse unsere Energie, weil sie uns
keine
Ruhe geben und immer wieder Kräfte von uns fordern. Sie wollen beachtet
und verarbeitet sein.
Nur wenn wir Vergangenes wirklich loslassen, sind wir frei für die
Gegenwart
und die Zukunft. Da ist die ledige Frau mittleren Alters, deren Eltern
vor
vielen Jahren plötzlich und rasch hintereinander gestorben sind. Sie
übernahm damals das Elternhaus und wohnt seither dort wie in einem
Museum.
Sie verändert wenig, und die Sachen der Eltern rührt sie nicht
an; es sind für sie immer noch die Sachen der Eltern und nicht ihre
Sachen. Sie ist immer wieder niedergeschlagen, hat wenig Lebensfreude
und
schottet sich von der Aussenwelt ab. Sie müsste noch einmal Abschied
nehmen von ihren Eltern, vielleicht unter liebevoller Begleitung den
Weg
noch einmal zurückgehen, die Eltern ans Herz drücken, das aussprechen,
was nie möglich war, Schuldgefühle und Beziehungen klären,
freigeben und selber frei werden. Oft reicht es schon, sich etwas von
der
Seele zu reden, zu schreiben oder zu malen.
Erst wenn wir loslassen, und bis dahin ist oft ein langer Weg, erst
dann
sind wir frei für Neues. Das Weizenkorn bleibt verschlossen, wenn es
sich nicht preisgibt. Das ist ein tiefes Geheimnis des Lebens, das im
Tod
und in der Auferstehung unseres Heilandes Jesus Christus seine
Begründung
erfährt. Mit ihm streifen wir noch und noch den alten Menschen ab und
ziehen den neuen Menschen an. Im Glauben an und in der Hoffnung auf ihn
sind
wir mit hinein genommen in dieses Geheimnis des ewigen Lebens, in
dieses
Geheimnis des Lebens, aus dem wir nicht fallen können, weil Gott es
so haben will.
last update: 25.08.2015