Predigt
vom 5. Februar 2006, gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in der Kirche von Zürich-Matthäus
ICH
MÖCHTE GOTT SEHEN
Nun bat Mose den Herrn: "Lass mich doch deine Herrlichkeit
sehen!"
Der Herr erwiderte: "Ich werde in meiner ganzen Pracht und Hoheit an
dir vorüberziehen und meinen Namen 'Der Herr' vor dir
ausrufen. Ich erweise meine Gunst, wem ich will, und ich schenke mein
Erbarmen, wem ich will. Aber mein Gesicht darfst du nicht sehen, denn
niemand, der mich sieht, bleibt am Leben. Hier auf dem Felsen neben mir
kannst du stehen. Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, werde
ich dich in einen Felsspalt stellen und dich mit meiner Hand bedecken,
bis ich vorüber bin. Dann werde ich meine Hand wegnehmen, und
du kannst mir nachschauen. Aber von vorn darf mich niemand sehen."
2. Mose 33,18-23
Eine merkwürdige Geschichte, die da Mose mit seinem Gott und
Gott mit seinem Mose hat!
Die ganze Zeit schon führt Mose sein Volk im Auftrag Gottes
aus Ägypten heraus durch das Schilfmeer, dann durch die weite
Wüste, und nun stehen sie am Berg des Herrn, am Gebirgsmassiv
des Sinai.
Die ganze Zeit schon redet Mose mit Gott, vernimmt seinen Namen ("Ich
bin, der ich bin"), und er empfängt Weisungen, die ihn und das
Volk Israel in die Freiheit führen.
Und jetzt, auf einmal, überkommt Mose der Wunsch: "Lass mich
doch deine Herrlichkeit sehen!" Also: "Ich wett dich und dyni
Schönheit emal gseh!" Das hört sich fast
kindlich-spaßig an, und doch wird ganz deutlich: Mose
hätte gerne noch etwas mehr von Gott, er wüsste gerne
seinen Namen, er möchte sich eine Vorstellung von seinem
Aussehen machen, dann vielleicht auch noch etwas von ihm in der Hand
haben, und so weiter. Es besteht kein Zweifel: Am liebsten
wäre ihm ein rufbarer, ein sicht- und greifbarer Gott!
Können wir das nicht gut verstehen? Begreifen wir das nicht?
Geht es uns hie und da nicht auch so? Gerade, wenn es drauf ankommt.
Gerade, bevor es weitergehen soll. Just in Momenten, wo Gott uns
besonders nahe stehen sollte. Oder an Orten, wo wir seine Nähe
stark spüren müssten und seine Kraft speziell
bräuchten. Da hätten wir gerne noch etwas mehr von
ihm.
Kommt mir ein frisch gebackener ABC-Schütze in den Sinn, der
an einem der ersten Schultage plötzlich ohne ersichtlichen
Grund zu weinen begann. Die Klassenlehrerin erkundigte sich nach seinem
Kummer, und der Kleine schluchzte: "Ich han vergässe, wie mys
Mami uusgseht!" Die verständnisvolle Pädagogin
stellte den Jungen nicht bloß, nahm ihn ernst und
ließ den Schützling nach Hause rennen. Und siehe da:
Etwa nach einer halben Stunde kehrte er erleichtert zurück und
konnte nun der Arbeit aufmerksam folgen.
So wollten wir vielleicht auch manchmal das vergessene Gesicht Gottes
sehen, aber er hat sich anders entschieden: "Mein Gesicht darfst du
nicht sehen." Offensichtlich sind unsere Augen dafür nicht
geschaffen. Er bewahrt dies Geheimnis. Wir können in Gott sein
und er in uns, aber gegenüberstehen können wir seiner
Herrlichkeit auf dieser Erde nicht. Das bleibt aufgespart für
den Zeitpunkt, da er uns mit anderen Augen ausrüstet. Und so
haben wir immer noch etwas Schönes vor uns: Nämlich
dort im Himmel zu sehen, was wir hier auf Erden glauben.
Aber es ist ja auch nicht so, dass Gott den Mose leer ausgehen
läßt. Im Gegenteil! Er verspricht ihm: "Ich werde in
meiner ganzen Pracht und Hoheit an dir vorüberziehen und
meinen Namen 'Der Herr' vor dir ausrufen." Nur, Gott sagt Mose, er
werde ihn dabei in einen Felsspalt stellen und seine Hand über
ihn halten, bis er vorüber sei. "Dann werde ich meine Hand
wegnehmen, und du kannst mir nachschauen."
Es macht fast den Anschein, dass Gott auf die merkwürdige
Frage von Mose ebenso eigenartig reagiert! Er zieht zwar vorbei an
Mose, aber er hält seine Hand über ihn. Trotz dieser
Einschränkungen handelt es sich hier um eine große
Gnade. Gott antwortet Mose, und er lässt ihn seine
Nähe spüren. Er geht auf ihn ein. Und es ist
während des ganzen Ablaufs völlig klar: Es gibt Gott,
und er lässt denjenigen, der nach ihm fragt und ihn sucht,
nicht im Stich! Und immerhin: Mose darf Gott nachschauen. Seine Spuren
also darf Mose sehen, und wir mit ihm, wenn wir das von ganzem Herzen
wünschen.
Lasst uns also Gott nachschauen in unserem Leben, lasst uns nach Gott
schauen! Gerade dann, wenn wir uns auf einem Marschhalt befinden.
Gerade in einer Stunde der Besinnung, in der wir Kraft auftanken
für die Wegstrecke, die vor uns liegt. Fragen wir uns, wo wir
nach Gott Ausschau halten können in unserem Leben. Wo sehen
wir seine Spuren, Momente, in denen er eingegriffen hat? Wo hat er nach
uns gefragt, uns gerufen, uns bei der Hand genommen und gesagt: "Da
geht es lang." Wo waren wir von ihm ergriffen? Wo war er da? Was danken
wir ihm? Was hat Gott uns durch Menschen geschenkt? Nicht nur die
schönen Dinge, auch die unsanften, harten Erfahrungen in
unserem Leben, beides wollen wir anschauen.
Und so wird die Frage, ob wir Gott schauen, ob wir ihn greifen
können, zur Frage, wo hat er nach uns gegriffen, wo haben wir
uns durch ihn ergreifen lassen? Ist es nicht so, dass er uns ins Leben
gerufen hat, dass er uns kennt und uns beim Namen ruft, dass er uns
nachgeht und uns auf den Weg mit ihm mitnehmen möchte?
Wenn wir solche Spuren Gottes in unserem Leben sehen, dann
wächst unser Vertrauen, dass er dies auch weiterhin tun wird.
Und wir werden ihm nicht nur nachschauen, wir werden ihm, nachdem wir
seine Nähe gespürt, seine Spuren der Liebe gesehen
und Kraft geschöpft haben, nachgehen, ja nachfolgen in Jesus
Christus, der uns sein Angesicht sehr wohl zeigt in der Schwester und
im Bruder, im Bedürftigen und im Leidenden, im Mitmenschen,
der sich nach ein bisschen Liebe und Verständnis sehnt.
Meine Gedanken hängen noch Mose und dem Volk Israel nach. Sie
befinden sich zwischen Ägypten und Palästina. Sie
sind Ausländer, Fremde, Heimatlose, Sans-Papiers,
Flüchtlinge auf demselben Weg, den Maria und Josef viel
später in umgekehrter Richtung als Asylsuchende gegangen sind.
Was, wenn man sich aufgehalten und zurückgeschickt
hätte? Lasst uns daran denken und das nie vergessen. Auch da
sehen wir Spuren Gottes und das Angesicht Jesu, in Leuten, die
äußerlich oder innerlich unterwegs sind und eine
Bleibe, eine Heimat, vielleicht auch eine Oase für ihre Seele
suchen.
Die Bibel legt den Fremdling, den Ausländer, dem Volk Gottes,
sobald es eine Heimat gefunden hat, besonders ans Herz. Sie hat
dafür starke historische Gründe, wie wir wissen.
Nicht umsonst beginnt das so genannte "Kleine geschichtliche Credo" mit
den Worten: "Ein umherirrender Aramäer war mein Vater. Der zog
hinab mit wenig Leuten nach Ägypten und blieb daselbst als
Fremdling und ward daselbst zu einem großen, starken und
zahlreichen Volke. Aber die Ägypter misshandelten uns und
bedrückten uns und legten uns harte Arbeit auf. Da schrieen
wir zu dem Herrn, dem Gott unsrer Väter, und der Herr
erhörte uns ..." Und so kam es, dass sie das Land erhielten,
das "von Milch und Honig fließt." (5. Mose 26,5 ff.)
Fremdsein und ausgenutzt werden ist die Erfahrung des Volkes Gottes.
Aber ebenso ist die Rettung, die Güte und die gefundene Heimat
seine Erfahrung. Es würde keinen Sinn machen, dies nicht
weiterzugeben.
Das gilt für alle Segnungen des Lebens. Sie werden erst
wirksam, wenn sie weitergereicht werden können. Wie bei Mose,
der alles, was er von Gott erhielt, dem Volk weitergegeben hat. Auch
die zehn Gebote. Wenn wir der Segnungen Gottes bewusst werden, wenn wir
sein Wirken in unserem Leben sehen und davon ergriffen sind -
und dies alles weitergeben, dann legt Gott seinen Schutz und Segen
darauf.
last update: 09.10.2015
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