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Maiandacht 2018 Predigttext (2. Kor. 12,9)
"Du hast genug an meiner Gnade, denn die Kraft findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit."
Liebe Gemeinde
Ob der Vielfalt staunen mag, wer sich über das griechische Wort "charis" [ἡ χάρις; die Gnade] und seine Bedeutung näher ins Bild setzt: Zum Einen ist da die Rede von Freude, Lust, Wohlgefallen, ja Genuss, Vergnügen und Annehmlichkeit; zum Andern von Anmut, Liebreiz, Reiz, Zierlichkeit, Lieblichkeit, Schönheit; und gar von Gunst, Huld, Gnade, Zuneigung, Freundlichkeit, Wohlwollen, Liebesdienst, Wohltat, Gefälligkeit, Geschenk wird gesprochen. Mit einem Mal wird der Begriff der Gnade so greifbar und kommt er so nah, wenn es da heisst "Du hast genug an meiner Gnade"; nicht nur ein frommes Wort, sondern durchaus erlebbar und tausendmal gespürt in den verschiedensten Facetten des Lebens, immer dankbar angenommen, oft auch ohne sich des Ursprungs und der eigentlichen Quelle bewusst und ihr – oder eben: ihm, Gott – dankbar gewesen zu sein. Ein Satz besonderer Weisheit, Paulus mitten in seinen Anfechtungen und nun auch uns in der Maiandacht zugesagt, dass die Kraft ihre Vollendung am Ort der Schwachheit findet. Dann, wenn nichts mehr herauszuholen wäre, dann, wenn eigentlich das Ende eingeläutet werden müsste, dann, wenn es zu kapitulieren gälte, dann findet die Kraft ihre Vollendung. Die Kraft, griechisch "dynamis" [ἡ δύναμις] meint das Vermögen, die Leistungsfähigkeit, die Stärke, die Fähigkeit und das Talent, ja Macht und Einfluss. Da, wo man es nicht vermuten würde; durch den Glauben an Jesus Christus ist die Kraft da, wo man nach menschlichem Ermessen abhängen und aufgeben würde, ja müsste. Das ist das Skandalon des Evangeliums, der Guten Nachricht für alle, denen sie verheissen ist. Und es hat mit dem menschgewordenen Gott, mit dem Gekreuzigt-Auferstandenen zu tun. Wir kommen von Pfingsten her, und wir leben noch im Monat Mai. "Der Wind weht, wo er will", lesen wir im Johannes-Evangelium 3,8, "Du hörst ihn zwar, aber du kannst nicht sagen, woher er kommt und wohin er geht. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist." Wir lernen eine Weisheit kennen, die nicht von dieser Welt ist, in einer Gegenwelt, wo das Unansehnliche ansehnlich wird. Dazu eine Geschichte (Die Blumen, Quelle unbekannt): In einem Garten standen: eine Pfingst-Rose; eine Schwertlilie; ein Stiefmütterchen; ein Löwenmäulchen; ein Gänseblümchen – und ein Frauenmantel. Eines Tages kam ein Mensch in diesen Garten, sah die schönen Blumen und bewunderte sie. Dann nahm er ein Maßband zur Hand und fing an, alle Blumen zu vermessen: die Länge ihrer Stängel und Blätter und die Größe und Weite ihrer Blüten. Er trug die Daten in eine Tabelle in und ging weg. Selbstbewusst stand die große, prächtige Schwertlilie auf ihrem hohen Stängel: So groß und stark wie ich ist keine andere! Ich bin weithin sichtbar; ich leuchte so herrlich – so dachte sie. Die Pfingst-Rose aber meinte: Ich bin zwar keine Rose und meine Namensschwester mag schöner duften als ich! Aber dafür blühe ich jetzt gerade rechtzeitig zum Geburtstag der Kirche – welch eine Pracht doch durch mich in die Welt kommt! Voll Stolz betrachtete das Löwenmäulchen seine zahlreichen Blüten: Wie hübsch ich doch bin! Ich blühe am schönsten! Nun fingen die drei an, mit ihren Vorzügen zu prahlen. Es gab ein lautes Durcheinander – und schon bald entstand ein heftiger Streit daraus. Das Stiefmütterchen, das Gänseblümchen und der Frauenmantel wurden kleiner und kleiner. Doch sie trösteten einander und das Gänseblümchen sprach zum Frauenmantel: Mach dir nichts draus! Auch uns mögen viele Menschen sehr. Ja, ich weiss – antwortet der Frauenmantel. Ich bin zwar in meiner Blüte unscheinbar und werde leicht übersehen. Aber mein Name zeugt von hoher Wertschätzung – Frauenmantel – so, als ob die heilige Jungfrau Maria mich um ihre Schultern legen wollte. Und Heilkräfte besitze ich auch! Das Stiefmütterchen hatte bisher geschwiegen. Doch nun sagte es zu den anderen: Was habt ihr nur!? Wie könnt ihr euch messen nach Größe, Stärke, Duft und Farbenpracht? Habt ihr vergessen: Ob groß oder klein, stark oder schwach – jede von uns hat von unserem Schöpfer ihr eigenes Kleid erhalten. In seinen Augen sind wir alle schön! Wir alle werden von ihm in gleicher Weise beschenkt mit Licht und Wasser, Wärme und Wind. Denn lieben tut er alle gleich. Und dass wir so verschieden sind – das eben macht den Reichtum der Schöpfung aus. Welcher Monat, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, würde sich besser dazu eignen, diese Vielfalt der Gnadengaben Gottes sicht- und riechbar zu machen! Auch wenn wir mal nicht in Stimmung sind; auch wenn wir mal verstimmt sind. Auch wenn wir trotz allen Gebeten Herausforderungen ausgesetzt sind; auch wenn Schwachheit uns zu schaffen macht – ja gerade dann, denn Gott ist in den Schwachen mächtig, da wirkt er, da führt er uns Menschen zu neuen Ufern, da richtet er unser Leben neu auf seinen Willen aus, da gibt er uns neue Kraft, neuen Lebenssinn, neue Freude! Das Gedicht "Wandlung" von Werner Bergengruen:
Löse dich von Haus und Haft, Ehe der Herd verglimmt. Denn zu Gottes Wanderschaft Bist du vorbestimmt. Namenloses Zeitenkind, Baum im Wanderschuh! Was am Prellstein hockt und sinnt, Das bist nicht mehr Du. Gib dich der verborgnen Hand, Die dich angerührt. Hebe dich vom Grabenrand. Geh, du bist geführt. Amen. last update: 09.05.2019 |