Weil Gott nicht
überall
sein konnte, schuf er die Mütter
Arabisches Sprichwort
Predigt zum Muttertag,
8. Mai 2005 von Pfarrer
Jakob Vetsch, Matthäus-Kirche Zürich
Wir feiern heute Muttertag. Dieser Tag scheint auf
ein
älteres,
kirchlich beeinflusstes Brauchtum in England zurückzugehen. In
der
neuen Form entwickelte er sich besonders seit dem Anfang des 20.
Jahrhunderts in Amerika.
1907 nahm die Amerikanerin Anna Jarvis aus Philadelphia den Tod ihrer
Mutter zum Anlass, sich erfolgreich für seine Anerkennung
einzusetzen. Weil ihre Mutter am zweiten Sonntag im Mai gestorben war,
wählte sie ihn als Gedenktag.
Im Jahre 1914 erklärte der amerikanische Präsident
Wilson den
zweiten Mai-Sonntag zum Muttertag. In Deutschland proklamierte
Reichspräsident von Hindenburg am 26. April 1925, dass dieser
Tag
als Ehrentag der Mütter begangen werde. Nach dem Zweiten
Weltkrieg
wurde der Brauch durch die amerikanischen Soldaten in Europa
weiterverbreitet. Seit 1945/50 ist der Muttertag allgemeiner Brauch.
Er ist zwar umstritten, denn man kann ihn als Alibitag missverstehen,
etwa in dem Sinne: So, jetzt haben wir wieder mal etwas getan
für
die Mütter! Aber ich finde, mit seiner Abschaffung ginge etwas
verloren und würde nichts gewonnen.
Dies zur Geschichte des Muttertages. Nun habe ich mich auf die Suche
nach etwas Gutem für diesen Tag gemacht und ein Bild des
niederländischen Genre- und Interieurmalers Gerard Terborch
(1617-1681) gefunden. Es trägt den Titel: "Mutter, die ihr
Kind
kämmt". Der Künstler hat es um 1652/53 im Alter von
etwa 35
Jahren geschaffen. Wir schauen es nun an.
Ein kleines Mädchen schmiegt sich eng an die Knie der Mutter
an
und lässt sich von ihr die Frisur richten. Es hat einen Ball
in
den Händen. Die Mutter zeigt das typische Profil der
weiblichen
Gestalten Terborchs: die durch das straff zurückgenommene Haar
betont fliehende Stirn, eine stark ausgeprägte, nicht gerade
edle
Nase, einen kleinen, vollen Mund und ein kurzes,
zurückweichendes
Kinn. Sie trägt eine dunkle, mit weissem Pelz
verbrämte
Jacke, die noch über die Armlehne des Stuhles gebreitet ist,
um
dem Künstler genügend Gelegenheit zur Stoffmalerei zu
geben.
Die Zwei erscheinen in fast reinem Profil. So kommt der ungeduldig
hinausstrebende Blick des Kindes lebendig zum Sprechen.
Das Motiv war unter den damaligen Malern geläufig und beliebt.
Vielleicht hat Terborch hier - wie bei anderen Bildern - seinen damals
sieben Jahre alten Halbbruder Moses als Modell für das Kind
genommen, das er freilich als Mädchen darstellt. Als Vorbild
für die Frau hat wohl seine damals etwa 45-jährige
Stiefmutter Wiesken Matthys gedient. Getreu dem Leitsatz
'Häuslichkeit ist die Zierde der Frau' werden Fleiss und
häusliche Tugend veranschaulicht, weshalb das Bild
gelegentlich
auch mit 'Mütterliche Sorgen' betitelt wurde.
Dem Motiv des Kammes begegnet man in jener Zeit nicht selten unter dem
Spruch: "Er reinigt und schmückt." An einer Stelle lesen wir:
"Der
Kamm ist wunderbar von Nutzen, der Kamm ist wunderbar fein. / Der Kamm
ist der, der den Kopf in bessere Ordnung setzt."
Vielleicht gefällt mir dieses Bild deshalb, weil es das Detail
mit
der Hauptsache verbindet, das Kleine mit dem Grossen. Der Ball und der
Kamm, das Spiel und das Notwendige. Die herzliche Zuneigung der beiden
und der ungeduldige Blick des Mädchens, die
Fürsorglichkeit
der Mutter. Die Gegensätze, die sich da auftun, und das
Verbindende, das auch da ist. Die Ruhe und die Spannung. Das Dasein und
Schonwiederfortwollen. Die Bewegung und das Bleibende. Ja, das Bild
zeigt uns, was bleibt: Die Liebe. In die Tat umgesetzte Liebe. Getane
Liebe. Füreinander getan. Einander gegeben. Geschenkt und
genommen. Erhalten und weitergereicht.
Ein Bild der Beziehung, der Liebe, der Arbeit, der
Fürsorglichkeit. Ein Vor-bild jener Liebe, mit der Gott uns
Menschen liebt. Im Evangelium (Lukas 21,18) lesen wir: "Nicht
ein
Haar von eurem Haupte wird verloren gehen." Die Hauptsache, die Liebe,
und das Detail, das Haar.
Auch bei Gott ist es so: er kümmert sich um das Grosse und um
das
Kleine. Denn er ist der liebe Gott, der liebende Gott. Und es
gehört zum Wesen der Liebe, dass sie das Kleine und das Grosse
zusammennimmt. Ihr ist beides wichtig. Beide zusammen machen das Bild
aus, die Mutter und das Kind. Es fällt Licht auf sie, das
Licht
der Liebe. "Lasset die Kinder zu mir kommen, und wehret es ihnen nicht,
denn solchen gehört das Reich der Himmel", sagt Jesus
(Matthäus 19,14).
Die 16-jährige Tabea schreibt:
"Weisst du, dass alles so schön ist?
Weisst du, dass es Millionen von Sternen am Himmel hat
und keiner dem anderen ähnlich sieht?
Weisst du, dass Gott dich liebt?
Egal, ob schwarz oder weiss,
ob dick oder dünn, alt oder jung, reich oder arm.
Weisst du, dass du schön bist?
Egal, ob mit blauen, grünen oder braunen Augen,
ob mit kurzen oder langen Haaren.
Auch, wenn du behindert bist:
Gott liebt dich!"
Und der lächelnde Papst, Johannes Paul I. ("der
33-Tage-Papst"),
fasst zusammen: "Denkt daran, dass die Mitte des christlichen Glaubens
Gott ist, der uns liebt. Wer das nicht verstanden hat, hat den
christlichen Glauben nicht verstanden. Und ich füge hinzu,
dass
diese Liebe nicht nur lebendig ist, sondern ewig. Es ist eine Liebe,
die nie aufgibt. Auch nicht, wenn ich sündige und mich von
Gott
entferne. Er läuft hinter mir her. Jesus ist einer, der uns
liebt."
Mir schien, in dem Bild des niederländischen
Künstlers sei
noch ein besonderes Geheimnis verborgen, eine Dankbarkeit, eine
Sehnsucht, eine Erinnerung, ein Ideal, eine Freude, die sich nicht
herauslesen, sondern nur erfühlen lässt.
Darum habe ich in seinem Leben nachgeschaut. Und bin fündig
geworden: Terborch hat im zarten Alter von 4 Jahren seine leibliche
Mutter verloren. Er erhielt eine Stiefmutter, die aber auch starb, als
er 11-jährig war. Eine zweite Stiefmutter nahm sich seiner an,
die
eben als Vorbild für die Mutter auf diesem Werk gedient haben
mag.
Also drei Mütter, die ihm, seinen Geschwistern und
Halbgeschwistern die Haare kämmten. Das Leben in Ordnung
hielten.
Und ihnen das Spiel ermöglichten. Mit dem Ball, der sich dreht
wie
die Zeit. Und wir Menschen kommen und gehen, mag er gefühlt
haben,
aber die Liebe bleibt. Sie ist ewig.
Und er zeichnete mit 35 Jahren dieses Bild von der Mutter und ihrem
Kind, arbeitete darin so manches auf, das er erlebt hatte im
Kindesalter, in der Jugendzeit. Ein Jahr später (1654)
heiratete
er und liess sich in Deventer nieder. Er wurde sesshaft.
Ermöglichte Kindern, in sein Haus zu kommen. "Lasset sie zu
mir
kommen und wehret es ihnen nicht, denn solchen gehört das
Reich
der Himmel."
Liebe Gemeinde, wir haben uns eingangs gefragt, wie es zum Muttertag
gekommen sei. Und wir haben von der Amerikanerin Anna Jarvis aus
Philadelphia gehört, die im Jahre 1907 den Tod ihrer Mutter
zum
Anlass genommen hat, sich für die Anerkennung dieses Tages der
Dankbarkeit und der Würdigung der Mütter einzusetzen.
Und
dass sie diesen Tag wählte, weil ihre eigene Mutter am zweiten
Sonntag im Mai gestorben war.
Dann haben wir miteinander das Bild von Gerard Terborch angeschaut und
herausgefunden, dass er zu drei Frauen das Wort "Mutter" sagte. Und im
reifen Alter von 35 Jahren dieses Bild malte, bevor er selber
geheiratet hat und sesshaft geworden ist.
Es wird wohl kein Zufall sein, dass gerade solche Menschen uns das Wort
"Mutter" sagen lehren, die es in ihrem eigenen Leben erfahren haben,
dass dieses Wort keine Selbstverständlichkeit darstellt. Und
dass
die Liebe, die aus reinem Herzen gegeben wird, ewig ist. Und auch das
Kleine, das Alltägliche, zählt.
Ich schliesse die Predigt mit einem Ereignis, das 40 Jahre
zurückliegt. Da schrieb die 10-jährige Christine,
eine
Drittklässlerin, in ihrem Aufsatz zum Thema
"Mutterhände":
"In der einen Hand hält meine Mutter die Pfanne und kocht. In
der
anderen hat sie den Staublappen und wischt den Tisch ab. Mit der
anderen Hand gibt sie der Kleinsten zu trinken. Mit der anderen Hand
macht sie das Essen für den Vater und alle Kinder bereit. Mit
der
anderen Hand gibt sie dem Bettler an der Tür 20 Rappen. In der
anderen Hand hält sie den Rosenkranz und betet ..."
Als die Lehrerin das vorliest, beginnt die Klasse zu kichern, und sie
fragt das Mädchen: "Aber Christine, wieviele Hände
hat dann
eigentlich Deine Mutter?" Die Kleine ist nicht verlegen, steht auf und
berichtet: "Meine Mutter hat zwei Hände für den
Vater, zwei
Hände für jedes Kind, zwei Hände
für die armen
Leute und zwei Hände für den lieben Gott, wenn sie
betet ..."
Da wird es mit einemmal still in der Klasse. Und das Mädchen
hört von vorne her sagen: "Du hast den besten Aufsatz
geschrieben!"
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last update: 03.02.2016
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