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Predigt vom 23. Juli 2006, gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in der Kirche von Zürich-Matthäus

FÜR DEN MENSCHEN GESCHAFFEN
Ährenrupfen am Sabbat

Am Sabbat ging Jesus einmal durch Kornfelder. Seine Jünger rupften im Vorbeigehen Ähren ab. Da sagten die Pharisäer zu ihm: "Sieh doch! Warum tun sie am Sabbat, was nicht erlaubt ist?"
Er entgegnete ihnen: "Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er Not litt und ihn und seine Begleiter hungerte? Wie er zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar in das Haus Gottes ging und die Schaubrote aß, die nur die Priester essen dürfen? Auch seinen Gefährten gab er davon." Und er sagte ihnen: "Der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Sabbats willen. Daher ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat."
Markus-Evangelium 2,23-28

Beim ersten Mal Hinhören könnte man meinen, das war ganz frech, was die Jünger hier taten. Sie liefen über ein Kornfeld und begannen, Ähren abzureißen. Dies erlaubt aber die Heilige Schrift ausdrücklich. Im 5. Buch Mose 23 lesen wir: "Wenn du in das Kornfeld deines Nächsten kommst, so magst du mit der Hand Ähren abreißen. Aber die Sichel sollst du nicht schwingen über das Korn deines Nächsten." (Vers 25). Ebenso lesen wir dort: "Wenn du in den Weinberg deines Nächsten kommst, so magst du Trauben essen nach Herzenslust, bis du genug hast. Aber in dein Geschirr sollst du nichts tun." (Vers 24).
So war es denn ein Überrest alten jüdischen Rechts, wenn es Bedürftigen bis ins vorletzte Jahrhundert hinein auch bei uns erlaubt war, Ähren wenigstens aufzulesen. Und noch heute ist es so, dass in gemeindeeigenen Wäldern dürres Holz von bloßer Hand mitgenommen werden darf. Das geht auf alttestamentliche Anweisungen zurück. Auf diese Weise dürfen natürliche Bedürfnisse gestillt werden, aber ohne sich dabei eines Hilfsmittels zu bedienen. Würden solche angewendet und Sichel und Körbe eingesetzt, dann wäre das eine Ernte. Das ist in unserem Bibeltext nicht der Fall. Da wurde nur genascht. Oder eben der Hunger einmalig gestillt. Nicht geerntet. Und das wäre am Sabbat verboten gewesen: die Erntearbeit. Also lag hier bei normaler Schriftauslegung weder eine Missachtung fremden Eigentums noch des Sabbat-Gebotes vor!
Dennoch vernehmen wir in unserer Geschichte die bohrende Pharisäerfrage: "Warum tun sie am Sabbat, was nicht erlaubt ist?" Für eine haarspalterische Schriftauslegung war Jesus aber nicht zu haben. Frömmelei und Plagerei lagen ihm fern. Seiner Sache sicher, gab er zurück: "Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er Not litt und ihn und seine Begleiter hungerte? Wie er zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar in das Haus Gottes ging und die Schaubrote aß, die nur die Priester essen dürfen? Auch seinen Gefährten gab er davon." Im Tempel von Jerusalem stand in der Mitte vor dem Allerheiligsten ein Tisch mit Schaubroten, den Broten vor dem Angesicht Gottes. Als Vorbild dafür haben vielleicht ägyptische Opfermatten und Opferplatten gedient. Diese vermittelten das Gefühl der unablässigen Dauer des Opferdienstes und vergegenwärtigten den ewigen Bund. Sogar von solchen Broten, so Jesus, hatten David und seine Begleiter gegessen, als sie hungern mussten!
Jenen, die im frommen Bestreben jeden Schritt - nicht nur für sich, sondern auch für andere - regeln wollten, rief er die befreiende, grundsätzliche Einsicht zu: "Der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Sabbats willen." Jenen, welche die Gnade zu hören haben, gibt er das Sabbat-Gebot als ein Geschenk für die Gesundheit und das Leben zurück. Die Regeln und Gesetze sind für den Menschen geschaffen und nicht der Mensch für die Gesetze und Regeln.
Das will ganz viel sagen. Das gibt viel Freiheit. Es zeichnet auch das Menschenbild vom Beschenkten, vom Freien, vom Inhaber einer besonderen Würde. Und es weist den Ordnungen, die sein müssen, die Bedeutung des Dienstes am Menschen zu. Einer, der dies in klarer Schärfe gesehen hat und für das Recht fruchtbar machen wollte, war der Zürcher Strafrechtler Peter Noll (1926-1982). In seiner Schrift "Jesus und das Gesetz" (Tübingen 1968) gab er zu bedenken: "Jesus hat die bestehenden Morallehren und institutionellen Ordnungen staatlicher oder gesellschaftlicher Natur nicht hingenommen oder gar sanktioniert, sondern radikal in Frage gestellt." (Seite 28). Maxime war für ihn das Wohl des Menschen, zu dem Gott spricht, den Gott anspricht, den Gott befreit, dem Gott Gedeihen, Entfaltung und Leben gibt.
Wenn damals die Frage war, wie ist der Sabbat, der freie Tag, der Feiertag, für den Menschen gedacht, so ist heute vielmehr die Frage, wie kann der Mensch für den Sonntag da sein, dass ihm dieser wieder zum Geschenk werden kann? Erdrückten damals die Sabbat-Vorschriften den Menschen, so stresst sich dieser heute in Unkenntnis des Geschenkes des Sonntags. Der freie Tag hat auch eine soziale, wohltuende Funktion: Wir sind dem Arbeitsprozess und seinen oft entwürdigenden Mechanismen enthoben. Wir haben frei. Und: wir sind es auch. Das gilt für den Angestellten und den Pensionierten genau gleich wie für den Manager.
"Mehr Mensch sein", lesen wir auf der Bergspitze des Kleinen Matterhorns über Zermatt im Gletscherparadies. "Mehr Mensch sein, im Angesicht Gottes", möchte ich beifügen. Bei ihm gibt es Wegleitung, Freiheit und Würde. Es kann nur sein, dass so manche Freiheit dem Leichtsinn und den Ängsten geopfert wurde. Da hören sie sich frisch an, die Worte Jesu! Und sie rufen uns aus so manchem Gefangensein heraus in den Bereich, wo das Leben schön ist.

MenschSein.jpg

Inschrift auf dem Kleinen Matterhorn, Zermatt
  Foto: Stana Vetsch, 16. Oktober 2005

Ich schließe mit einem alten Gedicht von Heinrich Puchta aus dem "Gebet- und Andachtsbuch" (St. Gallen, 1946) von Pfarrer Rudolf Grubenmann. Es kündet von einer Welt, in der man den Sonntag noch kannte. Es mag die Lust wecken, ihn modern und neu zu entdecken: Als eine Chance, ein Geschenk, das wir annehmen dürfen, weil es für uns geschaffen ist.

Tag über alle Tage
Geschenk aus Gottes Hand,
Mit jedem Glockenschlage
Bringst du ein Segenspfand.
Du Tag voll Licht und Sonne,
Der Gott gehört allein,
Du Morgen voller Wonne,
Sollst mir willkommen sein!

Nun lass vom Himmel fallen
Den frischen Gnadentau,
Nun fülle deine Hallen,
Lass grünen Feld und Au!
Lass jedes Herz erkennen
Dein Werk und deinen Ruhm,
Lass jeden Leuchter brennen
In deinem Heiligtum!

Herr, sieh' mit Wohlgefallen
Heut' auf dein Volk herab;
Herr, neige dich zu allen
Mit deinem Hirtenstab.
Heut' soll es allerorten,
Dass jeder lesen mag,
Geschrieben steh'n mit Worten:
Geheiligt sei dein Tag!


last update: 09.10.2015