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Bruno Amatruda
Predigt von Vikar Bruno Amatruda in der Kirche von Zürich-Matthäus am 16.7.2000 Die Auferweckung des Jünglings
Lk 7,11-17 "Und es begab sich danach, dass (Jesus) in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seine Jünger gingen mit ihm und eine grosse Menge. Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine grosse Menge aus der Stadt ging mit ihr. Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: Weine nicht! Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Junger Mann, ich sage dir, steh auf! Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und er gab ihn seiner Mutter. Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein grosser Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht. Und diese Kunde von ihm erscholl in ganz Judäa und im ganzen umliegenden Land. " Liebe Gemeinde Die Evangelien sind voll von Wundergeschichten, die berichten, wie Jesus Kranke heilt und im Extremfall sogar Tote auferweckt. Hier haben wir einen solchen Extremfall. Man kann das Ganze als übernatürliches Wunder anschauen. Dann gehen oft die Diskussionen darüber los, ob sich diese Geschichte tatsächlich so zugetragen hat oder nicht; ob wir es mit einer Legende zu tun haben oder ob Jesus tatsächlich Macht hatte, Tote wieder ins Leben zurückzuholen. Diese Diskussionen bringen meiner Ansicht nach nicht viel. Sie gehen nämlich an der wichtigsten Frage vorbei. An der Frage nämlich, was eine solche Geschichte für unser Leben bedeuten könnte. Auf den ersten Blick scheint der Fall klar zu sein. Jesus und seine Leute treffen auf einen Leichenzug. Jesus hat Mitleid mit der einzigen Hinterbliebenen und auferweckt für sie den einzigen Sohn wieder zum Leben. Schauen wir das Ganze genauer an, merken wir, dass hier eigentlich noch viel mehr passiert. Jesus durchschaut nämlich eine Problematik, die über den Verlust eines Kindes hinausgeht. Diese Problematik können wir heute nicht mehr so genau rekonstruieren und durchleuchten, aber ein paar Vermutungen können wir doch aufgrund von Hinweisen im Text anstellen. Da ist also eine Frau. Sie ist Witwe. Sie hat nur ein Kind geboren. Vermutlich ist der Vater in den ersten Lebensjahren des Kindes verstorben, denn es hat keine anderen Geschwister gegeben. Die Frau ist eine alleinerziehende Mutter und dazu noch Witwe. In der Antike mussten Witwen auf der untersten sozialen und finanziellen Stufe leben. Da gab es noch keine Versicherungen und Witwenrenten. Als Witwe fiel frau schnell einmal aus dem sozialen Netz heraus. Wir können uns also in etwa vorstellen, mit welchen Anstrengungen und innerem Druck diese Frau ihr Kind grossgezogen hat. Immer auch mit der Angst, es könne nicht reichen. Immer mit der Verantwortung für das Kind als Last auf ihren Schultern und mit der Trauer - vielleicht sogar Wut - darüber, die ganze Verantwortung alleine tragen zu müssen. Wir können uns also vorstellen, wie sich ihr ganzes Leben um diesen Knaben gedreht hat, um seine Ernährung, um seine Gesundheit, um seine Erziehung. Sie hat ihre ganze Energie und Liebe in diesen Jungen gesteckt. Und ebenso all ihre Hoffnungen und ihre Erwartungen. Aus dieser Aufgabe hat sie - zwangsläufig - den Sinn für ihr Leben gezogen. Und dies weckt auch Erwartungen. Wer sich so investiert, der erwartet doch auch ganz unbewusst einen Lohn dafür. Die Frau hat bestimmt auch mit der Hoffnung gelebt, dass das Kind, wenn es denn einmal erwachsen wird, für sie sorgen wird. Die einzige soziale Absicherung und Altersvorsorge für eine Witwe war die Familie. Und zu dieser Hoffnung gesellt sich natürlich auch die Angst: Was ist, wenn dieses Kind mich eines Tages verlässt? Dann habe ich gar nichts mehr. Finanziell bin ich dann aufgeschmissen, und mein einziger Sinn im Leben, ist auch weg. Mit einer solchen Erwartungshaltung der Mutter wächst das Einzelkind also auf. Mit der vielleicht unausgesprochenen Forderung, die Mutter ja nie zu verlassen und auch später für sie sorgen zu müssen. Aus solcher Forderung kann schnell einmal eine Überforderung werden. Denn der natürliche Drang des Menschen nach Eigenständigkeit, nach Unabhängigkeit, nach Erwachsensein und nach einem eigenen Leben, wird von solchen Forderungen geradezu erstickt. Als Kind gelingt es dem Sohn noch, der Mutter zuliebe diesem Drang nicht nachzugeben. Als es aber in das Alter kommt, da es gilt, langsam erwachsen zu werden und sich von der Mutter zu lösen, kann er diese Spannung nicht mehr aushalten: Auf der einen Seite der Drang nach Eigenständigkeit, auf der anderen die Forderung der armen, alten Mutter. Die Mutter kann ihn nicht loslassen, weil sie sonst alles verliert, was ihr noch bleibt. Der Knabe wiederum kann nicht erwachsen werden, wenn er bei der Mutter bleibt. Vielleicht hat diese Spannung den Jungen innerlich zerrissen. Da ist es zu einer gegenseitigen ungesunden Abhängigkeit gekommen, die beide - vor allem das Kind - nicht hat leben lassen. Was tut Jesus nun, da er die Situation wahrnimmt? Er auferweckt nicht den Jungen, damit alles so bleibt wie bisher. Er greift vielmehr wie ein Familientherapeut ein. Sein Verhalten hat etwas von einer therapeutischen Intervention. Zuerst geht er zur Mutter und fordert sie auf, nicht mehr zu weinen. Und er meint wohl nicht nur ihr Weinen hier und jetzt, sondern ihre Einstellung all die Jahre über: Ihre Überforderung als alleinerziehende Witwe, die zu diesen übergrossen Erwartungen an ihr Kind geführt hat. Dann erst geht er zum Sarg und weckt den Entschlafenen, ruft ihn auf, aufzustehen. Er nennt ihn dabei Neaniskos. Im griechischen heisst das "junger Mann". Er ruft den Sohn nicht als Kind und nicht einmal als Sohn , sondern als Mann, als jungen Erwachsenen auf! Die Mutter trauert um ihr Kind, in welches sie ihr ganzes Leben investiert hat. Dieses Kind ist tatsächlich gestorben. Aber der, der nun aufsteht, ist nicht mehr dieses Kind, sondern ein eigenständiger, erwachsener junger Mensch. Und weiter heisst es im Text: "und er (Jesus) gab ihn seiner Mutter." Die Mutter bekommt ihren Sohn wieder. Aber etwas ist nun anders. Er ist jetzt ein junger Mann und ihr Verhältnis wird sich wandeln. Aus einem Abhängigkeitsverhältnis kann nun ein solidarisches, partnerschaftliches Verhältnis werden. Nun, da die Mutter dem Jungen erlaubt, ein eigenständiger Mensch zu werden, besteht auch die Möglichkeit, dass er sich aus freien Stücken um seine alte, verwitwete Mutter kümmern wird. Denn Solidarität und Verantwortung können nicht erzwungen werden. Sie bedingen hingegen einen freien, selbständigen Menschen. Wer das Gefühl hat, selber zu kurz zu kommen, wird kaum echte Solidarität entwickeln können. Was weiter passiert mit diesem Sohn und dieser Mutter, wird nicht mehr berichtet. Indem Jesus den jungen Burschen vor allen Leuten und vor seiner Mutter einen "jungen Mann" ruft, gibt er den Tarif durch für die Zukunft. Wenn die Mutter ernst nimmt, dass der Sohn nicht ihr Lebensinhalt sein muss, sondern ein eigenständiges Leben hat, bestehen gute Chancen, dass sie in ihm einen guten Freund finden wird. Wenn der Sohn ernst nimmt, dass er ein eigenständiges Leben führen darf, bestehen guten Chancen, dass er mit der Freiheit auch die Verantwortung wahrnimmt. Zuerst für sich selbst. Dann aber auch für andere, zum Beispiel für seine alte, verwitwete Mutter. Diese Wundergeschichte ist sicherlich ein Extremfall. Es kommt darin aber eine Erfahrung zum Ausdruck, die wir immer wieder machen. Die einen als Mütter und Väter, die anderen als Töchter und Söhne, andere wiederum als Grosseltern noch einmal. Es ist die Erfahrung, dass man nicht verlieren kann, was man loslässt. Die beste Methode, jemanden zu verlieren, ist nämlich, ihn nicht loszulassen. Das erzeugt ganz lebensfeindliche Abhängigkeiten. Aber was man loslässt, kann man nicht verlieren. Diese Erfahrung machen viele Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. Der arabische Schriftsteller Khalil Gibran schreibt in seiner Spruchsammlung "der Prophet": "Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch, und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, Denn sie haben ihre eigenen Gedanken... " Was man loslässt, kann man nicht verlieren. Diese Erfahrung machen viele Menschen auch in Partnerschaften und Freundschaften, ja in allen Beziehungen, die Menschen untereinander haben. Der Raum und die Eigenständigkeit, die man dem Mitmenschen lässt, ist ein Zeichen von Respekt und von Liebe. Und es ist ein Zeichen von göttlicher Liebe, wenn Jesus in dieser Wundergeschichte auf diese Wahrheit hinweist. Was man loslässt, kann man nicht verlieren. Amen.
07.05.2007
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