CHRISTentum.ch
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Bruno Amatruda
2000-2001 Vikar bei Pfr. Jakob Vetsch

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PREDIGT vom 10.9.2000 in der Matthäus-Kirche von Zürich

Keiner hat gar nichts 

Lk 9, 10-17 
Und die Apostel kamen zurück und erzählten Jesus, wie grosse Dinge sie getan hatten. Und er nahm sie zu sich, und er zog sich mit ihnen allein in die Stadt zurück, die heisst Betsaida. Als die Menge das merkte, zog sie ihm nach. Und er liess sie zu sich und sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften. Aber der Tag fing an, sich zu neigen. Da traten die Zwölf zu ihm und sprachen: Lass das Volk gehen, damit sie hingehen in die Dörfer und Höfe ringsum und Herberge und Essen finden; denn wir sind hier in der Wüste. Er aber sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen: Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, daß wir hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen. Denn es waren etwa fünftausend Mann. Er sprach aber zu seinen Jüngern: Laßt sie sich setzen in Gruppen zu je fünfzig. Und sie taten das und liessen alle sich setzen. Da nahm er die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel und dankte, brach sie und gab sie den Jüngern, damit sie dem Volk austeilten. Und sie aßen und wurden alle satt; und es wurde aufgesammelt, was sie an Brocken übrigliessen, zwölf Körbe voll. 

Liebe Gemeinde 

Die Speisung der Fünftausend ist eine sehr bekannte Erzählung. Sie wird gemeinhin als Wundergeschichte aufgefasst: Jesus hätte fünf Brote und zwei Fische vermehrt, so dass fünftausend Männer (Frauen und Kinder nicht mit gerechnet) satt werden konnten. Jesus als Zauberer gewissermassen, der für die hungernde Masse Nahrung herbeizaubert. Im Text selber steht allerdings nichts von einer wunderbaren Vermehrung. Die Moral der Geschichte ist wohl eine andere. Der Speisung der Fünftausend ist die Aussendung der zwölf Apostel vorausgegangen. Nach ihrer ersten Lehrzeit bei ihrem Meister, haben sie nun ihr erstes "Praktikum" hinter sich ge-bracht, haben das Evangelium gepredigt und Kranke geheilt. Jetzt kehren sie zurück und erzählen voller Begeisterung von dem, was sie als Prediger und Heiler erlebt haben. "Und die Apostel kamen zurück und erzählten Jesus, wie große Dinge sie getan hatten", heisst es im Text, und man merkt förmlich, wie stolz sie sind - auch auf sich selber. 

Nun gilt Stolz ja nicht eben als christliche Tugend. Im Gegenteil wird Demut gross geschrieben, und man scheut sich als Christ oft davor, auf die eigene Leistung stolz zu sein. Sehr schnell wird für alles selber Geleistete auf Gott verwiesen. Wieso eigentlich? Was ist so Schlimmes dabei, die eigene Leistung zu feiern? Ich meine, es gibt auch einen gesunden Stolz, und der sollte im Leben von uns Christen Platz haben. Vor allem, wenn er Dankbarkeit mit einschliesst. Eine selbst erbrachte Leistung schätzen zu wissen, das tut dem Selbstwerge-fühl gut. Das steigert das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und macht zuversichtlich für künftige Taten und Unternehmungen. Andererseits ist es heilsam zu merken, dass wir selten nur alles alleine machen, sondern immer auch auf günstige Umstände angewiesen sind oder auf die Voraussetzungen, die wir mitbringen müssen oder einfach auch auf andere Menschen. Wenn uns etwas gelingt und wir etwas geleistet haben, dürfen wir immer beides: stolz sein und dankbar sein. Der Stolz wird erst dann unangenehm und gefährlich, wenn er sich über andere Menschen erhebt, welche vermeintlich keine grossen Leistungen vorzuweisen haben. Auch unsere Jünger in der Erzählung stehen ein Stück weit in dieser Gefahr. Eigentlich hat Jesus mit ihnen eine Art Retraite im Sinn gehabt. Sie wollten sich zurückziehen, um ihre Erfahrungen auszutauschen und womöglich um theologische und praktische Fragen zu erörtern und das weitere Vorgehen zu besprechen. Doch das Volk, das Jesus und seine Jünger sieht, durchkreuzt ihren Plan, stört sie, macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Jesus lässt zu, dass sie ihnen folgen. Er predigt zu ihnen vom Reich Gottes und macht Kranke gesund. Als es langsam dunkel wird und die Zeit für das Nachtessen naht, sind es die Jünger (und nicht etwa die Menschen aus der Volksmenge!), die Jesus vorschlagen, er solle das Volk ziehen lassen. 

Wären die Leute davon gezogen, dann wären die Jünger wieder mit ihrem Lehrer allein geblieben. Prediger und Heiler unter sich. Die wichtige Besprechung hätte wieder aufgenommen werden können. Diesmal macht Jesus ihnen einen Strich durch die Rechnung. Auf den Vorschlag, die Leute wegzuschicken, damit sie Essen besorgen können, antwortet Jesus: "Gebt ihr ihnen zu essen." Diese Antwort ist so absurd wie genial. Natürlich können zwölf Leute nicht genug Proviant für 5000 dabei haben. Natürlich ist es aussichtslos, um die Zeit noch für so viele Leute Nahrung zu beschaffen. Mit dieser Antwort aber entlarvt Jesus aber die wahre Absicht seiner Jünger. Sie behaupten ja, das Volk hätte nicht genug zu essen dabei. Tatsächlich aber ist mehr als genug da, wie sich herausstellen wird. Die Jünger wollten einfach, dass die Leute nun endlich abziehen und der erlauchte Kreis wieder für sich ist. Ihre Tendenz ist exklusiv. In ihrer religiösen Begeisterung und in ihrem Stolz über die vollbrachten Taten, werden sie überheblich und ausschliessend. Sie möchten das Fussvolk draussen haben. Jesus hingegen ist einschliessend. Er will das Volk dabei haben. Und damit erteilt er seinen glaubensbegeisterten Jüngern eine Lektion in Glauben. Ihre grossen Taten, von denen sie schwärmen, sind schön und recht , und sie sollen ruhig stolz sein. Nur dürfen sie nicht meinen, sie seien dadurch etwas Besseres! Der Gefahr, sich vom normalen Volk abzusondern, sich über das Gemeinvolk zu erheben sind im Laufe der Kirchengeschichte viele christliche Sondergruppen und Sekten erlegen. Zum Teil hatten sie ja berechtigte religiöse Anliegen. Allein, Elitedenken führt meistens zu Spaltungen: hier die Ausserwählten, dort das Volk, hier die Kirche, dort die Welt. Aber auch Spaltungen innerhalb der Gemeinschaften und in einem gewissen Sinne im einzelnen Gläubigen selbst sind die Folge. 

Jesus lässt das Volk in kleinere Gruppen einteilen und tut, was jeder jüdische Familienvater heute noch vor dem Essen tut: er spricht ein Segens- und Dankgebet. Das ist ein traditioneller und religiöser Akt, hat aber auch die Signalwirkung unseres "en Guete!". Die Jünger verteilen, was sie haben. Fünf Brote, zwei Fische. Das reicht nicht für viel. Aber der Nachbar hat vielleicht etwas Gemüse dabei und der neben ihm hat Wasser. Der dritte hat gar nichts mitgenommen, dafür hat sein Kollege ein paar Früchte und stellt die zur Verfügung. So organisiert sich jede kleine Gruppe selber, indem jeder das einbringt, was er gerade kann. Und das reicht. Es bleiben sogar zwölf Körbe übrig! Auch das Volk hat etwas zu bieten! Das Volk hat sogar den Jüngern etwas zu bieten: einen Korb pro Jünger nämlich. Ich nehme an, diese Lektion haben die Jünger gelernt. Ich habe zu Beginn behauptet, diese Erzählung sei keine Wundergeschichte. Man könnte allerdings sagen, dass es doch an ein Wunder grenzt, Tausende von Menschen zu motivieren, das Essen miteinander zu teilen. Ja, vielleicht ist es sogar noch das grössere Wunder, als wenn Jesus die Naturgesetze durchbrochen hätte, um eine Menu zu zaubern. Das Reich Gottes, von dem er den ganzen Tag gepredigt hat, ist keine Gratisdegustation und kein himmlisches Take-Away. Sondern erst im Erlebnis des gemeinsamen Teilens und Essens, im Erfahren von Tischgemeinschaft und Solidarität wird etwas vom Gottesreich erfahrbar, und dies ganz handfest. Wenn Menschen, von dem, was sie haben, auch anderen etwas zur Verfügung stellen, kommt das Reich Gottes nahe. Vorhanden ist eigentlich genug. Das ist das Erste, das wir aus dieser Geschichte lernen. Jeder hat etwas zu bieten. Der eine mehr, der andere weniger. Gesamthaft aber ist viel, ist mehr genug vorhanden. Natürlich widerspricht das der vorherrschenden Tendenz in der heutigen Wirtschaftswelt. Jesus geht davon aus, das genug vorhanden ist. Er bildet kleine Gruppen. Alle teilen, und am Ende bleibt sogar ein Überfluss. 

In der heutigen Wirtschaft läuft es zum Teil genau umgekehrt. Jeder hat Angst, es reiche nicht. Zumindest nicht für ihn. Daher werden immer grössere Gruppen und Unternhemen gebildet, man fusioniert. Das Resultat sind Massenentlassungen und die Streichung von Arbeitsplätzen. Wirtschaftsleute reagieren allergisch auf die Kommentare und Appelle von kirchlicher Seite. Man wirft uns dann Inkompetenz vor und dass wir die Zusammenhänge nicht wirklich verstünden. Aber wenn man sieht, wie im Westen Überschüsse und Abfallberge produziert werden, während in der Dritten Welt Not herrscht, dann muss man kein Ökonom sein um zu merken, dass eigentlich genug vorhanden wäre. Es ist lediglich sehr ungerecht verteilt. Mit dem Vorhandenen liesse sich schon sehr viel erreichen. Die zweite Pointe der Geschichte besteht darin, dass ja jeder etwas gibt. Das braucht nicht einmal so viel zu sein. Die Jünger beispielsweise haben nur zwei Fische und fünf Brote dabei. Und die Witwe mit ihren Scherflein für den Gotteskasten (Mk. 12, 41-44) hat objektiv gesehen nicht viel. Doch was sie hat, spendet sie. Jemand anders gibt weder Esswaren noch Geld, sondern stellt Räumlichkeiten zur Verfügung. Und ein anderer bringt sogar etwas nicht Materielles ein: eine gute Idee. Die kann auch viel wert sein! Wichtig ist doch, dass all dies mit anderen geteilt werden kann. Niemand hat gar nichts. Ob ein Millionär Tausende von Franken spendet oder eine alte Frau ihre Nachbarin zum Kaffee einlädt. Ob wir zur Weihnachtszeit etwas für die Hilfswerke einzahlen oder ob wir ein Stück unserer Freizeit opfern wie die vielen Ehrenamtlichen und Freiwilligen auch in unserer Gemeinde, die ihre Zeit, Energie und Visionen einbringen. Ob wir als Prominente eine Wohltätigkeitsveranstaltung organisieren oder als Menschen wie Sie und ich einem Mitmenschen ein gutes Wort mitgeben, weil er das gerade braucht. Das Wesentliche ist die Gemeinschaft, die dabei entsteht. Wir machen dabei die eigenartige Erfahrung, dass wir nicht ärmer werden, wenn wir geben, sondern reicher. Und in dieser paradoxen Erfahrung schimmert etwas vom Reich Gottes durch. 

Amen.


07.05.2007