Predigt
vom 23. April 2006 in der Matthäuskirche von Zürich,
gehalten von Pfr. Jakob Vetsch
ANKER DER SEELE
"Die Hoffnung haben wir
als einen sicheren und festen Anker der Seele,
der auch in das Innere des Vorhangs hineingeht." Hebräer 6,19
Heute habe ich einen Anker mitgebracht. Jahrzehnte habe ich ihn bei
mir, und dann und wann schaue ich ihn an, nehme ihn in meine
Hände und denke daran, dass wir alle Halt brauchen in unserem
Leben.
Wenn Seeleute auf dem See oder im Meer mit einem Schiff unterwegs sind,
kommt manchmal ein Sturm auf. Man sieht nicht mehr einen Meter weit.
Die Wellen klatschen ans Schiff. Dieses füllt sich bereits mit
Wasser. Steuerbar ist das Schiff auch nicht mehr. Nun muss der Anker
ausgeworfen werden. Dieser greift in den festen Grund, hält
das Schiff und bewahrt es vor Schiffbruch. Für die alten
Seefahrer war der Anker etwas ganz Wichtiges, etwas Lebenswichtiges.
Sie brauchten ihn für die Fahrt über die Seen und
Meere.
Vielleicht wäre das für uns gar nicht weiter so
bedeutsam, wenn nicht die ersten Christen solche Anker gezeichnet
hätten. In den unterirdischen Grabstätten von Rom,
den Katakomben, sehen wir viele Anker an die Wände gemalt.
Daneben stehen etwa die lateinischen Worte, die sich so
merkwürdig anhören: SPES IN DEO / SPES IN CHRISTO
(Hoffnung auf Gott / Hoffnung auf Christus). Wir realisieren, dass der
Anker für die ersten Christen ein starkes Zeichen war, ein
Sinnbild auf Hoffnung. Wenn Christen einen solchen Anker gesehen haben,
dann haben sie Hoffnung gesehen, Sicherheit und Zukunft. Wir
können uns vorstellen, wie das gerade für verfolgte
Christen eine Zuversicht bedeutete, ein Lichtstrahl war!
Wenn wir den Anker als ein Bild für die Hoffnung nehmen, dann
verstehen auch wir uns im übertragenen Sinn als Leute
unterwegs in einem Schiff. Ja, das ist richtig, wir sind
gewissermaßen das Kirchenschiff, das auf der Fahrt ist! Wir
können nicht stehen bleiben, weil wir Christus nachfolgen.
Darum waren die frühen Kirchen nach Westen ausgerichteet. Im
Westen war der Platz des Predigers, gewissermaßen des
Steuermanns, der das Schiff nach Osten lenkte. Später, als die
Kirchen etablierter waren, trat das Bild vom Schiff in den Hintergrund,
und die Kirchenbauten wurden gedreht, sodass wir heute in den meisten
unserer Kirchen den Blick gegen Osten richten, gegen den Sonnenaufgang,
gegen Jerusalem. Daher kommt unser Heil, und wir alle schauen dorthin.
Der Prediger verkündigt das Wort aus dem Osten, vom
Sonnenaufgang her, und von dort holen wir auch das Abendmahl. Dies
gehört zur Symbolik des Kirchenbaus.
Wir sitzen nach wie vor "im gleichen Boot". Wir bilden eine
Lebensgemeinschaft und gehören zusammen. Wir wissen aber auch,
dass unser Schiff erschüttert werden kann. Es ist auch
möglich, dass wir selber von den Stürmen des Lebens
geschüttelt werden, sodass uns Angst überkommt. Genau
das hat einmal die Jünger ereilt. Diese Geschichte
erzähle ich jetzt, sie steht in den Evangelien aufgeschrieben
(Matthäus 8,23-27; Markus 4,35-41; Lukas 8,22-25):
Als Jesus einmal mit seinen Jüngern auf dem See Genezareth
unterwegs war, kam plötzlich ein großer Windsturm
auf. Die Wellen schlugen ans Schiff, sodass es sich bereits mit Wasser
füllte.
Und stellt Euch vor: Jesus schlief derweil hinten im Schiff auf einem
Kissen! Die Jünger mussten ihn wecken, und sie sagten zu ihm:
"Meister, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?" (Bei
Matthäus: "Herr, hilf uns, wir gehen unter!")
Da erwachte er, bedrohte den Wind und sagte zum See: "Schweig! Sei
ruhig!"
Da legte sich der Wind. Es trat eine große Windstille ein.
Dann fügte Jesus bei: "Warum seid ihr so ängstlich?
Habt ihr noch keinen Glauben?" (Bei Lukas: "Wo ist euer Glaube?")
Sie konnten das alles aber nicht richtig verstehen und sagten
zueinander: "Was ist das bloß für ein Mensch, dass
ihm sogar der Wind und der See gehorchen?"
Haben die eine Angst ausgestanden! Und Jesus war ganz ruhig. Auch uns
ergeht es manchmal so, dass wir durchgeschüttelt werden von
den Kräften des Lebens. Auch wir stehen manchmal in einem
Sturm. Ich meine in einem Lebenssturm stehen wir dann und wann: Etwa,
wenn wir Streit haben mit jemandem. Wenn wir eine Enttäuschung
davon getragen haben. Wenn wir uns unverstanden und einsam
fühlen. Wenn wir nicht mehr weiter wissen. Wenn wir an uns
selber zweifeln. Wenn uns ein begangener Fehler fast erdrücken
möchte. Wenn uns das schlechte Gewissen plagt. Oder wenn
Krankheit uns heimsucht.
Dann überfällt uns manchmal auch die Angst, wir
könnten untergehen. Eine Existenzangst kommt hoch. Und wir
fragen dann vielleicht wie die Jünger: Wo ist denn da unser
Gott? Schläft er sorglos? Kümmert ihn unsere Not
nicht? Und wir wollen mit den Jüngern laut rufen: "Herr, hilf
uns, wir gehen unter!"
Diese Geschichte ruft uns in Herz: Gott hört auf unsere
Hilferufe, und er hilft uns auch. Aber meistens geht es nicht so
einfach und so schnell. Auch Jesus am Kreuz meinte von Gott verlassen
zu sein. Da kann uns eine andere Geschichte weiterhelfen, die nicht in
der Bibel steht und recht bekannt ist:
In einer Nacht träumte ein Mann, er spaziere mit Christus an
einem weiten, schönen Strand. Am Himmel sah er Szenen aus
seinem Leben. In jeder Szene bemerkte er zwei Paar
Fußabdrücke im Sand, ein Paar gehörte ihm,
das andere dem Herrn.
Als die letzte Szene erschien und er zurück schaute, nahm er
wahr, dass manchmal nur ein einziges Paar
Fußabdrücke im Sand zu sehen war. Und er stellte
erschrocken fest, dass dies genau in denjenigen Zeiten der Fall war, wo
es ihm am schlechtesten erging.
Das hat ihn natürlich sehr verwundert, und er stellte seinen
Herrn zur Rede: "Herr, du hast mich einmal aufgefordert, dir
nachzufolgen. Und du hast mir verheißen, jeden Weg mit mir zu
gehen. Nun muss ich aber feststellen, dass in den schwersten Zeiten
meines Lebens nur ein einziges Paar Fußabdrücke im
Sand zu sehen ist. Ich verstehe nicht, warum?! Wenn ich dich am meisten
brauchte, hast du mich alleine gelassen."
Da antwortete ihm der Herr: "Mein lieber Freund, ich hab dich so gerne,
dass ich dich nie verlassen würde. In den Zeiten, in denen es
dir am schlechtesten ging, als du auf die Probe gestellt wurdest und
gelitten hast, dort, wo du nur ein einziges Paar
Fußabdrücke im Sand siehst, das waren die Zeiten, in
denen ich dich getragen habe."
Das ist erstaunlich: Gerade dort, wo wir es am wenigsten vermuten
würden, ist Gott uns nahe und trägt er uns! Wir haben Grund,
unsere Hoffnung wie einen Anker auszuwerfen. Sie wird nicht
ins Leere fallen. Sie wird uns fest machen, uns sicheren Boden unter
den Füssen, gute Kraft und Geborgenheit geben. Da erleidet
unser Leben keinen Schiffbruch. Der Gescheiterte, der nicht gescheitert
ist, der Gekreuzigt-Auferstandene, Jesus Christus, hält uns.
Das Kreuz sehen wir eben auch im Zeichen des Ankers. Es ist offen auf
alle Seiten, es meint Dich und mich. Es ist weit, es engt nicht ein.
Wenn es auf dem Anker steht, gibt es Sicherheit, die nicht
enttäuscht. Und es gibt Geborgenheit, die Raum zur Entfaltung
lässt. Eben, wie es unser Predigttext sagt:
"Die Hoffnung haben wir als einen sicheren und festen Anker der Seele,
der auch in das Innere des Vorhangs hineingeht."
Mit dem "Inneren des Vorhangs" ist das Allerheiligste gemeint. Jesus
wird als der Hohepriester angesehen. Mit
dem Allerheiligsten denkt der Verfasser des Hebräerbriefes an
den Himmel. Dort sind unsere Namen aufgeschrieben. Dort kennt man uns.
Dort sitzt Jesus zur Rechten Gottes. Davon aber mehr an
Himmelfahrt!
last update: 03.08.2015
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