Predigt
vom 14. März
2004, gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in
Zürich-Matthäus
Von der Dankbarkeit
Sie waren unterwegs nach Jerusalem. Ihr Weg
führte sie
durch das Grenzgebiet zwischen Galiläa und Samarien.
In einem Dorf begegneten ihnen zehn Leprakranke. In der
vorgeschriebenen Entfernung blieben sie stehen und riefen: "Jesus,
Meister! Hab doch Erbarmen mit uns!"
Er sah sie an und forderte sie auf: "Geht zu den Priestern und zeigt
ihnen, daß ihr geheilt seid!" Auf dem Wege dorthin wurden sie
gesund.
Einer von ihnen lief zu Jesus zurück, als er merkte,
daß er
geheilt war. Laut lobte er Gott. Er warf sich vor Jesus nieder und
dankte ihm. Und das war ein Mann aus Samarien.
Jesus fragte: "Habe ich nicht zehn Männer geheilt? Wo sind
denn
die anderen neun? Weshalb kommt als einziger dieser Fremde
zurück,
um sich bei Gott zu bedanken?" Zu dem Samariter aber sagte er: "Stehe
auf! Dein Glaube hat dich gerettet."
Lukas 17,11-19
Diese biblische Geschichte ist Sondergut des Evangelisten Lukas. Das
heisst, wir können sie nur bei ihm nachlesen. Der Arzt Lukas,
der
auch die Apostelgeschichte als Fortsetzung seines Evangeliums
niedergeschrieben hat, fällt durch solche eigenen
Erzählungen
auf: Der verlorene Sohn, das verlorene Schaf, der Pharisäer
und
der Zöllner, der Oberzöllner Zachäus, der
barmherzige
Samariter, und eben, ein bisschen weniger bekannt: der dankbare
Samariter.
Es ist dem Evangelisten Lukas ein spürbares Anliegen, diese
Leute
um Jesus versammelt zu wissen: die Verlorenen, die Sünder, die
Verachteten, die Unangesehenen, die Fremden. Sie kommen bei ihm besser
weg als die Selbstgerechten und Selbstgefälligen, die meinen,
Gott
und seinen Sohn Jesus Christus nicht nötig zu haben. Er
hält
sie für besonders heilsfähig, weil sie wissen, dass
sie auf
die Vergebung, auf die Liebe und die Kraft des Lebens angewiesen sind.
Und es liegt dem Evangelisten und Arzt Lukas daran, Jesus Christus als
den Meister der Ärzte und als den Heiland vorzustellen, der
die
Kranken heilt und den Schwachen Kraft verleiht; der die Verlorenen
sucht und die Verirrten zurück holt; der die Versprengten
sammelt
und den Fehlbaren vergibt. "Nicht die Gesunden bedürfen des
Arztes, sondern die Kranken; ich bin nicht gekommen, Gerechte zu
berufen, sondern Sünder zur Busse" (Lukas 5,31-32), und
dafür
möchte Lukas das Auge des Herzens schärfen und zur
Tat der
helfenden Hände auffordern!
War es in der Geschichte des barmherzigen Samariters ausgerechnet der
gesunde Ausländer, der als minderwertiger Jude galt und dem
Überfallenen als einziger geholfen hat, so ist es in dieser
weniger bekannten Geschichte der kranke Samariter, dem geholfen wurde
und der als einziger zurück kam, um Gott zu preisen und Jesus
zu
danken. Diesen hatte sein Glaube gerettet. Über das weitere
Schicksal der anderen neun Geheilten erfahren wir nichts.
Das Wort Jesu, wie es der Evangelist niedergeschrieben und
überliefert hat, tönt realistisch und hart,
enttäuscht:
"Weshalb kommt als einziger dieser Fremde zurück, um sich bei
Gott
zu bedanken?" Die Aussage hallt nach: "Weshalb als einziger dieser
Fremde?" Das muss uns zu denken geben. Es muss uns
beschäftigen,
wie wir uns Fremden gegenüber verhalten, und ob es uns auch
fremd
wäre, zurückzukehren, Gott zu preisen und Jesus zu
danken.
Ja, wie steht es mit unserer Dankbarkeit?
Es hat einmal jemand gesagt, man komme Gott nicht nur durch Denken,
sondern vor allem durch Danken nahe (beide Worte sind ja in der
deutschen Sprache so ähnlich). Danken ist eben eine Handlung,
die
froh macht und Übereinstimmung, Einheit mit Gott bezeugt.
Eigentlich frohe Menschen sind wir, wenn wir dankbar sein
können.
Dann sind wir zufrieden, weil wir Frieden mit uns, mit Gott und
Menschen gefunden haben. Es gibt nichts Besseres und Heilsameres als
ehrliche Dankbarkeit!
Manchmal geht es uns wie Jesus, und ich stelle mir die gleiche Frage
wie er. Viele Leute nehmen den Glauben und die Kirche in Anspruch, wenn
es ihnen nützt. Wie wenige aber kehren zurück und
bleiben
dabei? Vielleicht eben jeder Zehnte wie in dieser
eindrücklichen
Geschichte. Neun von zehn bleiben fern. Nun, Jesus sammelt sich seine
Gemeinde trotzdem. Er sammelt sie aus jenen, die zurückkehren,
gleich, was für Leute das sind, ob Fremde oder Einheimische,
ob
Angesehene oder Ausgestossene, ob Junge oder Alte. Er sammelt sich
seine Gemeinde aus eben diesen Zehnten, die zu ihm kommen und seine
Nähe für ihr Leben nicht mehr missen wollen. Diese
segnet er,
und er ruft sie in seinen Dienst, denn die Welt braucht sie! Die Welt,
die grosse draussen und die kleine hier bei uns, braucht jene wenigen,
die beten. Sie sind das Salz der Erde und das Licht für die
Welt,
ganz egal, ob das bemerkt und geschätzt wird oder nicht. Es
wird
Segen darauf liegen, auch wenn wir ihn nicht spüren.
„Wir leben
mitten im Segen Gottes und merken ihn nicht“, hat Martin
Luther einmal
gesagt. Es wird Kraft vom Gebet des Aufrichtigen ausgehen, auch wenn
wir sie nicht sofort sehen. Darum wollen wir nicht nachlassen und unser
Glaubensleben und unsere Nähe zu Jesus unentwegt pflegen. Dies
gibt uns Sinn, und es strahlt aus in ewige Leben hinein, dessen
Güter uns nicht genommen werden können, weil sie
unverlierbar
sind.
Die Weisheit Christi kennt diese Perle der Seligkeit, die dem reinen
Herzen geschenkt wird, deren Chance aber auch vertan werden kann. Und
diese Weisheit wurde Menschen aller Zeiten und aller Völker
geoffenbart, wie es auch eine Erzählung aus Afrika ganz
ähnlich zu berichten weiss:
Eines Tages begab sich das Leben auf die Wanderschaft durch die Welt.
Es ging und ging, bis es zu einem Menschen kam. Der hatte so
geschwollene Glieder, dass er sich kaum rühren konnte.
"Wer bist du?" fragte der Mann.
"Ich bin das Leben."
"Wenn du das Leben bist, kannst du mich vielleicht gesund machen",
sprach der Kranke.
"Ich will dich heilen", sagte das Leben, "aber du wirst mich und deine
Krankheit bald vergessen."
"Wie könnte ich euch vergessen!" rief der Mann aus.
"Gut, ich will in sieben Jahren wieder kommen, dann werden wir ja
sehen", meinte das Leben. Und es bestreute den Kranken mit Staub, den
es vom Wege genommen hatte. Kaum war das geschehen, war der Mann gesund.
Dann zog das Leben weiter und kam zu einem Leprakranken.
"Wer bist du?" fragte der Mann.
"Ich bin das Leben."
"Das Leben?" sagte der Kranke. "Da könntest du mich ja gesund
machen."
"Das könnte ich", erwiderte das Leben, "aber du wirst mich und
deine Krankheit bald vergessen."
"Ich vergesse euch bestimmt nicht", versprach der Kranke.
"Nun, ich will in sieben Jahren wieder kommen, dann werden wir ja
sehen", sprach das Leben. Es bestreute auch diesen Mann mit Staub vom
Wege, und der Kranke ward sogleich gesund.
Wieder begab sich das Leben auf die Wanderschaft. Nach vielen Tagen kam
es schliesslich zu einem Blinden.
"Wer bist du?" fragte der Blinde.
"Das Leben."
"Ach, das Leben!" rief der Blinde erfreut. "Ich bitte dich, gib mir
mein Augenlicht wieder!"
"Das will ich tun, aber du wirst mich und deine Blindheit bald
vergessen."
"Ich werde euch bestimmt nicht vergessen", versprach der Blinde.
"Nun gut, ich will in sieben Jahren wieder kommen, dann werden wir ja
sehen", sagte das Leben, bestreute den Blinden mit Staub vom Wege, und
der Mann konnte wieder sehen.
Als sieben Jahre vergangen waren, zog das Leben wieder in die Welt. Es
verwandelte sich in einen Blinden und ging zuerst zu dem Menschen, dem
es das Augenlicht wieder gegeben hatte.
"Bitte, lass mich bei dir übernachten", bat das Leben.
"Was fällt dir ein?" schrie der Mann es an. "Scher dich weg!
Das
fehlte mir gerade noch, dass sich hier jeder Krüppel breit
macht."
"Siehst du", sagte das Leben, "vor sieben Jahren warst du blind. Damals
habe ich dich geheilt. Und du versprachst, deine Blindheit und mich
niemals zu vergessen."
Darauf nahm das Leben ein wenig Staub vom Wege und streute ihn auf die
Spur dieses undankbaren Menschen. Von Stund an wurde er wieder blind.
Dann ging das Leben weiter, und es gelangte zu dem Menschen, den es vor
sieben Jahren von der Lepra geheilt hatte. Das Leben verwandelte sich
in einen Leprakranken und bat um Obdach.
"Pack dich!" schrie der Mann es an. "Du wirst mich noch anstecken!"
"Siehst du", sagte das Leben, "vor sieben Jahren habe ich dich von der
Leprakrankheit geheilt. Damals hast du versprochen, mich und deine
Krankheit niemals zu vergessen." Darauf nahm das Leben ein wenig Staub
vom Wege und streute ihn auf die Spur des Mannes. Im selben Moment
wurde der Mann wieder von der Leprakrankheit befallen.
Schliesslich verwandelte sich das Leben in einen Menschen, dessen
Glieder so geschwollen waren, dass er sich kaum rühren konnte.
So
besuchte es jenen Mann, den es vor sieben Jahren zuerst geheilt hatte.
"Könnte ich bei dir übernachten?" fragte ihn das
Leben.
"Gern, komm nur weiter", lud der Mann das Leben ein. "Setz dich, du
Armer, ich will dir etwas zu essen machen. Ich weiss recht gut, wie dir
zumute ist. Einst hatte ich ebensolche geschwollenen Glieder. Gerade
ist es sieben Jahre her, als das Leben hier vorüber kam und
mich
gesund machte. Damals sagte es, dass es nach sieben Jahren wieder
kommen wolle. Warte hier, bis es kommt. Vielleicht wird es auch dir
helfen."
"Ich bin das Leben", sagte das Leben nun. "Du bist der einzige von
allen, der weder mich noch seine Krankheit vergessen hat. Deshalb
sollst du auch immer gesund bleiben."
Als es sich dann von dem guten Menschen verabschiedet hatte, sagte es
noch: "Ständig wandelt sich das Leben. Oft wird aus
Glück
Unglück. Not verwandelt sich in Reichtum, und Liebe kann in
Hass
umschlagen. Kein Mensch sollte das jemals vergessen."
Afrikanisches Märchen, nacherzählt
von Dietrich
Steinwede
In dieser Erzählung aus Afrika zeigte sich einer von drei
dankbar,
bei Jesus ist es einer von zehn. Zwischen beiden Geschichten gibt es
einen grossen Unterschied: Jesus hat die Heilung nicht
rückgängig gemacht. Er lässt uns die
Freiheit, die
Freiheit zur Dankbarkeit, zum Glauben und zur Nachfolge.
Ja, das Leben ist in ständiger Wandlung begriffen. Das
Schicksal
des andern kann morgen meines sein, oder meines sein Schicksal. Diese
Wege scheinen so oft unergründlich. Nicht selten aber wohnt
ihnen
ein tieferer Sinn inne. Und wenn es auch Rätsel gibt im Leben,
so
mag es allein der Liebe gelingen, sie zu lösen. Und nur die
Dankbarkeit macht das Leben lebenswert. Sie ist eine Tochter der Liebe.
Sie öffnet uns die Augen dafür, dass in einer Krise
eine
Chance liegen kann. Sie schenkt uns die Einsicht, dass auf das Dunkel
der Nacht das Licht des Tages folgt. Und sie rüstet uns mit
der
Weisheit aus, dass sich Gott denen naht, die ihn von ganzem Herzen
suchen. Er verlässt die Seinen nicht.
Dank
- Danket!
last update: 28.09.2015
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