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WER MIT DEM HERZEN SIEHT - Ratgeber für das Leben zu zweit

Liebe - Offenbarung und Geheimnis zugleich

Ein kleiner Zusammenstoß zweier Autos auf der Landstraße. Die Lenker steigen aus. Ein junger Mann und ein wohl etwas voreiliges Mädchen schauen sich zum ersten Mal in die Augen... Es dauert nicht lange, und die beiden wissen: Wir sind füreinander bestimmt. Sie lieben sich.
Ein Knabe und ein Mädchen wachsen im selben Dorf auf. Nie hatte sich zwischen ihnen etwas Außergewöhnliches ereignet. Und dann, eines schönen Tages, passiert es: Sie verlieben sich ineinander und werden Partner für das Leben. 
Diese Liste herrlicher Liebesgeschichten ließe sich endlos fortsetzen. Jedes Paar lernt sich auf seine eigene Weise kennen, und darin liegt der Schlüssel zu ihrer Beziehung verborgen. Eine Schülerin hat mich einmal gefragt, wie sie ihren Eltern beibringen könnte, daß sie einen Freund habe. Ich habe ihr geraten: "Frag sie mal, wie sie einander kennengelernt haben. Dann wirst du eine schöne, wahre Geschichte hören, und ihr seid schon mitten im Thema!" 
Es ist tatsächlich faszinierend, wie Menschen sich finden - Menschen überhaupt, Liebespaare im besonderen. Aus einer flüchtigen, vielleicht anfänglich gar nicht so erfreulichen Begegnung kann eine ganz intensive, jahrzehntelange Beziehung entstehen. Oder aus einer normalen, jahrelangen Bekanntschaft entwickelt sich auf einmal die Liebe des Lebens. Aus mathematisch unendlich zahlreichen Möglichkeiten kristallisiert sich plötzlich oder allmählich die eine Beziehung, die zur wichtigsten im Leben wird - nicht für alle Leute gilt das, aber für die meisten. Wie erfreulich oder mühsam der weitere Verlauf einer Liebesgeschichte auch sein mag, begonnen hat sie in unverwechselbarer, ganz bestimmter, einmaliger Weise. Denn gerade diese zwei Menschen und keine anderen- sind beieinander stehengeblieben. Sie haben sich etwas mitzuteilen. Sie haben einen Auftrag aneinander zu erfüllen. Sie haben sich etwas zu sagen. Sie lieben einander. 

Zugegeben: Es hätte auch anders kommen können. Es ist aber nicht anders gekommen. Es ist so gekommen. Und das hat einen bestimmten Grund, über den vielleicht nur das Paar selbst sich im klaren ist und auch ihm bleibt es letztendlich oft ein Rätsel. 
Wenn sich der weitere Weg in manchen Fällen als schwierig erweist, sollte man sich deshalb davor hüten, einseitige Schuldzuweisungen vorzunehmen. Oft erliegt man der Versuchung, ihn als "Schurken" oder sie als "Luder" zu verurteilen, und man meint dann, das Problem gelöst zu haben, was natürlich nicht stimmt. Das ist unheilvoll und ungerecht. Es bedeutet bereits eine unstatthafte Einmischung in das Leben der Betreffenden, denn die beiden sind die Verbindung in eigener Verantwortung - wie gesagt - nicht grundlos eingegangen. Statt sich mit vorschnellen Abqualifizierungen zufrieden zu geben, ist es besser zu versuchen, die Mitmenschen in ihrem Tun oder Lassen zu verstehen und sich gegenseitig zu helfen, den Sinn und das Ziel des Lebens zu erfassen. Dostojewski sagte einmal: "Einen Menschen lieben heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat." 

Ein Beispiel aus der Geschichte mag diese Gedanken verdeutlichen: Ulrich Bräker, der Arme Mann aus dem Toggenburg, sah eines Tages »ein Mädchen so mit einem Amazonengesicht vorbeygehn, das mir nicht übel gefiel«. Man warnte ihn, sie sei oft böse, und auch er selbst merkte früh, "daß sie gern den Herr und Meister spiele". Trotzdem heiratete er sie, denn er sagte sich: "Diese Person wird dein Nutzen seyn - wie die Arztney dem Kranken." 
Er wußte also von vornherein um die Bitternis der Medizin, und die beiden taten sich dann auch schwer miteinander. Wer will da aber urteilen? Mit ihm wird es auch nicht einfach gewesen sein, und anders wäre es vermutlich auch nicht besser ausgegangen. Zum Wirrkopf Bräker - wenn er überhaupt für die Ehe taugte gesellte sich wohl nicht zufälligerweise eine dominante Partnerin! 

Gegensätze ziehen sich an. Mann und Frau sind Gegensätze. Oft findet sich zu einem sprudelnden Temperament ein ausgeglichener Charakter. Das hat etwas Gutes, aber auch etwas Aufreibendes an sich. Ist die Liebe stark genug und sind die Liebenden einsichtig, dann ist das auf Dauer wunderbar. Wird jedoch die Liebe müde und schieben die Partner sich gegenseitig die Schuld zu, dann heißt es schnell: "Wir sind eben zu verschieden!" Genau das aber ist wichtig. Es kommt darauf an, wie wir damit umgehen.
Sonderbar ist überhaupt, daß es Mann und Frau gibt. Es gibt nicht einfach den "Menschen", er ist immer entweder Mann oder Frau. Der Mensch ist geteilt in Mann und Frau, während Gott ganz ist. Er ist nicht geteilt in Mann oder Frau, er ist ganz Gott. Obwohl wir "Gott Vater" verehren und Jesus ein Mann war, hütet sich die Bibel vor einer Sexualisierung Gottes. Er läßt sich nicht dem einen oder anderen Geschlecht zuordnen. 
Vielleicht gerade aus diesem Grunde spüren Liebende, die sich vereinigen, daß Liebe göttlich ist. Vielleicht auch deshalb möchten so viele Traupaare am schönsten Tag ihres Lebens die Kirche nicht missen, auch wenn sie sonst nicht so sehr nach ihr fragen. Liebe braucht die Zweisamkeit in der Einsamkeit, und doch will sie auf Dauer nicht allein für sich bleiben. Sie sucht nach Freunden, die sie begleiten, sie möchte sich weiterschenken, und sie fragt nach dem tragenden Grund ihres Daseins, nach Gott. Und noch etwas: Aus der Liebe erwächst neues Leben. Sie will fruchtbar sein. 

So ist denn die Liebe eine Offenbarung: Sie erschließt neue Räume, neues Empfinden und Erleben, und sie pflanzt sich fort. Wer seinem "Du" begegnet, dem öffnet sich eine neue Welt. Das ist die Freude des Adam über die Frau, die ihm geschenkt wurde: Du gehörst zu mir! Wir gehören zusammen! 
Die Liebe birgt aber immer auch ihr Geheimnis, das ihr nicht genommen werden kann, ohne sie zu zerstören. Es ist dies das Geheimnis des Lebens. Denn ausgerechnet die wichtigsten Dinge für uns sind nicht sichtbar, nicht beweisbar, sondern nur spürbar, erweisbar. Wir können Liebe und Vertrauen nicht auf den Tisch legen und sagen: "Sieh mal, so groß ist meine Zuneigung zu dir!" Liebe ereignet sich unsichtbar, unbeweisbar, aber spürbar und erweisbar im Geben und Nehmen. Das ist sehr schön, aber alles Schöne ist ständig bedroht und braucht immer Schutz.
Wenn wir der Liebe das Geheimnis nehmen wollten, dann erginge es uns wie jenem kleinen Mädchen, das in eine moderne Schule ging. Da lernte es nie auswendig, wiederholen oder zuhören, sondern es sollte immer beobachten. Das Ergebnis war nun folgendes: Wenn das Mädchen eine Blume fand oder eine Schnecke, machte es die Blume auf, um zu sehen, wie sie im Innern war, und die Schnecke machte es auch auf, um zu sehen, wie sie im Innern aussah. So fand das Mädchen nirgends das Leben, das es finden wollte. Denn die Blume war keine Blume mehr, wenn es sie zerriß, und die Schnecke war tot, wenn es sie von innen sah. Das Mädchen hatte durch die Beobachtung den Gegenstand, das Leben, zerstört. Die Beobachtung selbst vernichtete das, was sie erreichen wollte. Mit der Liebe ist es auch so. Sie will erlebt und nicht auseinandergenommen werden, weil es ihrem Wesen entspricht, verbindend und nicht trennend zu wirken. 

Die Liebe offenbart das Leben, das ein Geheimnis in sich trägt. Liebe erklärt und verschweigt, sie öffnet und birgt, sie gibt und nimmt, sie setzt Kräfte frei und verleiht Kraft. 
Ein Schlüssel zum Verständnis der Liebe bildet - wie wir gesehen haben - das Erlebnis ihres Anfangs. Denn derjenige, der Menschen zusammenführt, weiß auch, warum. Wenn sie darauf hören, werden sie auch weitergeführt, von Schlüsselerlebnis zu Schlüsselerlebnis, das immer wieder neue Sphären öffnet!