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Predigt zum Gottesdienst am Sonntag, 11. November 2012
um 18:00 Uhr, gehalten in der Wasserkirche, Zürich,
durch Pfr. Jakob Vetsch, Sihlcity-Kirche


Von der Gnade

Predigttext:
"Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen."
Der letzte Satz der Bibel; Offenbarung 22,21


Liebe Gemeinde!

Die ersten Worte der Bibel sind ja so bekannt: "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde." Vom Studium her sind sie dem Theologen meistens auch in der hebräischen Ursprache des Alten Testaments geläufig: "B'reeschit barah Elohim ha Schamajim we ät ha Arez." Eben: "Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde."
Welche Dynamik diese Worte erhalten können, durfte ich merken, als ich sie einmal jemandem, dessen Leben sich abrundete, gesagt und darauf hingewiesen habe, dass mir auf der Herreise die Reihenfolge aufgefallen war: Zuerst den Himmel hat Gott geschaffen, zuerst den Himmel! Ja, dort werden wir uns wiedersehen, wir Weiterlebenden kommen einst nach.

So tief geht das mit den ersten Worten der Bibel. Und dann alles, was nachher kommt an Heilsgeschichten und mit der Erlösung durch Jesus Christus, die Evangelien des Neuen Testaments und die Briefe samt der Offenbarung des Sehers Johannes – das alles ist so reich, und da möchte ich mit dabei sein. Bis zum Schluss, der uns nochmals grosse, ungeahnte Räume öffnen wird.

Der Schluss – ja, der Schluss der Bibel, kennen Sie den? Wie bekannt die ersten Worte der Heiligen Schrift auch sein mögen, so unbekannt sind die letzten. Der letzte Satz der Bibel, wie heisst er denn? Haben Sie den schon mal gehört? Auch der Prediger musste nachschauen. Er blätterte und las da:

"Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen."

Unglaublich, unglaublich schön, dieser Schluss des aufgeschriebenen Wortes Gottes! Es ist ein Gnadenwunsch.
So schliesst auch der Apostel Paulus seine Briefe.

"Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen."

Das ist der letzte Satz. Am Anfang des Buches der Offenbarung begrüsste Johannes (1,4) die Gemeinde mit der Zusage der Gnade und des Friedens: "Gnade sei mit euch und Friede von dem, der ist und der war und der kommt."
Und nun wird die Bitte ausgesprochen, dass die Gnade vom Herrn Jesus bei allen bleiben möge. Der Wunsch gilt allen, die ihn im Gottesdienst vernehmen. Allen gilt er, die zur Gemeinde gehören. Die Schrift wurde für die Gemeinde der Gläubigen abgefasst, um in der Versammlung verlesen zu werden.
Es gibt alte Handschriften, die es so ausformulieren: "Mit allen Heiligen. Amen." Gemeint sind die durch Gott Geheiligten, die an den Herrn Jesus Christus glauben.

Die Botschaft wurde mit grossen Anstrengungen in die ganze Welt gebracht (noch bevor es Internet und SMS gab!), und somit richtet sich der Wunsch nun an alle, die ihn hören und aufnehmen möchten.

Martin Luther übersetzte vielleicht ein wenig abgerundeter und lieblicher:

"Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen! Amen."

Schön zu lesen ist auch die englische Version:

"The grace of our Lord Jesus Christ be with you all. Amen."

Wenn orthodoxe Christen den Wunsch für Gottes Segen, Gesundheit, Glück und Frieden entgegen nehmen, pflegen sie ihn mit folgenden Worten zu bestätigen: "Und allen Menschen auf der ganzen Welt!"

Das beeindruckt sehr. – Natürlich ist auch derjenige mit eingeschlossen, der den Wunsch zuerst ausgesprochen hat. "Allen Menschen" können wir wünschen, was wir gerne in Empfang nehmen. Da ist niemand ausgeschlossen. Und alle sind eingeladen.
Der Gedanke, dass andere das nicht erhalten sollen, was wir gerne haben und zu schätzen wissen, will uns nicht glücklich machen. So wünschen wir es allen Menschen auf der ganzen Welt und bitten Gott darum, dass er es wirke.

Der Gnadenwunsch macht uns glücklich. Wir sind gemeint und dürfen ihn auch allen anderen Menschen zusprechen. Gott möge es wirken, dass er ankommt in unseren Herzen und in den Herzen vieler anderer. Gott möge es wirken, dass er Gestalt annimmt. Gott möge den Glauben wirken und uns den unermesslichen Reichtum geben, der damit verbunden ist.

Schauen Sie, wir hören das jetzt so. Das Wort "Gnade" ist den Kirchgängern nicht fremd. Wir stellen aber fest, dass es in der Alltagssprache oft nur noch in der negativen Wendung "gnadenlos" verwendet wird.
Das ist hie und da so, wenn ein Begriff am Verschwinden ist. Typisch das Wort "unflätig" für "unschön" – dann würde "flätig" ja "schön" bedeuten, was niemand mehr sagt und das Schreibprogramm im Word sofort rot unterstreicht, weil es den Ausdruck gar nicht mehr kennt. Der Ostschweizer Familienname "Flater" würde dann „Schönherr“ bedeuten.

Früher galten die Anreden "Gnädige Frau" und "Gnädiger Herr". Ein Pferd erhielt bis zu seinem Ableben das "Gnadenbrot", und nicht selten wurde nach dem Grundsatz "Gnade vor Recht" entschieden.  
Der Apostel (1. Korintherbrief Kapitel 12 und 13) redet von den verschiedenen Gnadengaben und vom einen und denselben Geist. Und er sagt ganz klar, welches die höchste Gnadengabe sei: Es ist die Liebe.

Wir leben in einer gnadenlosen Zeit, in der wir die Gnade des Herrn Jesus den Menschen wieder ganz neu erklären dürfen. Das tun wir am besten gar nicht mit Worten, sondern durch die Tat.
Am besten entdecken wir die Gnade in unserem Leben neu. Dann kehrt die Dankbarkeit ein und der Wunsch, Gott zu loben und zu preisen. Das strahlt aus. Als Beschenkte schenken wir weiter. Als solche, die wir Vergebung erfahren durften, sind wir auch auf Vergebung eingestellt. Als solche, die wir die Freundlichkeit des Herrn empfangen haben, geben wir dieses Licht auch in andere Hände und Herzen.

Es gibt eben doch noch Dinge im Leben, die sich vervielfachen, wenn sie geteilt werden. Wir Christen sind in einer gnadenlosen Zeit ein Hinweis darauf. Dabei begleitet uns der Segenswunsch am Schluss der Bibel:

"Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!"

Amen.



Gebet für die Adventszeit 2012


Guter Gott

Heute beten wir für alle Menschen und auch für uns selber:

Lass uns unterscheiden zwischen den Gaben, die wir von deiner Gnade erhalten haben, und den vielen Gütern, die wir erwerben können.

Lass uns unterscheiden zwischen den Dingen, die aus deiner gütigen Hand kommen und für uns bestimmt und uns anvertraut sind, und zwischen geschaffenen Bedürfnissen, deren Erfüllung uns vielleicht gar nicht gut bekommt.

Lass uns unterscheiden zwischen dem was wir wollen und dem was uns zufallen soll und gut ist für uns.

Lass die vielen Kaufanreize in der Adventszeit nicht unsere Chance der neuen Hinwendung zu dir und deinem Kommen zu uns überlagern.

Lass uns nicht glauben deine Gnade kaufen zu können; sie bleibt das grosse Geschenk an uns, das wir annehmen dürfen.

Amen.


last update: 04.12.2012