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Predigt vom Sonntag, den 27. September 2009, gehalten in der Wasserkirche Zürich
von Pfarrer Jakob Vetsch, Sihlcity-Kirche


HEILIG

"Ihr sollt heilig sein, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig."
3. Mose 19,3b

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Wandspruch im Jan-Hus-Haus, Konstanz
Foto: Jakob Vetsch, 31. Mai 2009



Liebe Gemeinde!

Zur Zeit ihrer Entstehung im Jahre 1826 war die "Deutsche Messe" des Komponisten Franz Schubert fast revolutionär, weil sie in eine komplett lateinisch-sprachige Messe eingebettet war. Sie wurde vom Textdichter und Wiener Professor Johann Philipp Neumann in Auftrag gegeben und stiess anfänglich wegen der Gestaltung in der Landessprache und der freien romantisierenden Interpretation des liturgischen Vorbildes auf Ablehnung durch das Wiener Erzbischöfliche Konsistorium. Während die lateinischen Texte des katholischen Ritus den Lobpreis Gottes im Mittelpunkt haben, stellt die "Deutsche Messe" mehr den Menschen mit seinen Sorgen und Nöten in den Vordergrund. Die "Deutsche Messe" von Franz Schubert und Johann Philipp Neumann hatte zum Originaltitel "Gesänge zur Feier des heiligen Opfers der Messe" und sie trat im Zuge der Verbreitung der deutschen Bet- und Singmesse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Siegeszug in der Beliebtheitsskala der Kirchenchoräle an. Auch in unseren reformierten Kirchen wurde sie populär und erfährt hohe Wertschätzung. Es ist ihr im Zeitalter der Kommunikation nun auch ein ganzer Artikel in der freien Internet-Enzyklopädie Wikipedia gewidmet, dem ich einen guten Teil des soeben an Sie weitergegebenen Wissens zu verdanken habe.

Als ich nun vernahm, dass heute Abend der geschätzte Kirchenchor Wollishofen unter der Leitung von Ruben Viertel u.a. meinen bevorzugten Choral "Heilig, heilig, heilig" aus der beliebten "Deutschen Messe" vorträgt, lag das Predigtthema auf der Hand: "Ihr sollt heilig sein, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig."

Es kam mir in den Sinn, dass sich die Urchristen "hoi hagioi" (griech.), d.h. die Heiligen, nannten. Und dass ich das erst begreifen konnte, als ich es als "die Geheiligten" auffassen durfte. "Die Heiligen" sind diejenigen, die zu Gott gehören; diejenigen, die Jesus ihren Herrn nennen; die Berufenen, die Erwählten, die Gläubigen. Ihre Heiligkeit kommt darin zum Ausdruck, dass sie vom Heiligen Geist Getriebene sind. Sie wird hier als vorethischer Begriff verstanden, erfordert dann aber auch ein dem Heiligen Geist gemässes Tun.
Der Apostel Paulus schrieb über das Erbe des Reiches Gottes tröstlich vom Trennenden: "Dies alles ist von euch abgewaschen, ihr seid geheiligt worden, ihr seid gerecht gemacht worden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes." (1. Korinther 6,11)  Dies ist Heiligkeit als Gabe Gottes und nicht als Verdienst.

Es kam mir auch das "Gebet einer unbekannten Äbtissin" (Teresa von Avila, 1515-1582) in den Sinn, in dem sie davon spricht, sie habe nicht die Absicht, eine Heilige zu werden und mit manchen von ihnen sei schwer auszukommen. Solche alte Ehrlichkeit möchte ich nun ein bisschen mit Ihnen geniessen, und ich lese die Worte dieser älteren Glaubensfrau, die uns vielleicht mitteilen, was "geheiligt" im Leben konkret bedeuten kann:

"Herr, du weisst, dass ich altere und bald alt sein werde. Bewahre mich davor, schwatzhaft zu werden, und besonders vor der fatalen Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit und über jedes Thema mitreden zu wollen. Befreie mich von der Einbildung, ich müsse anderer Leute Angelegenheiten in Ordnung bringen. Bei meinem ungeheuren Schatz an Erfahrung und Weisheit ist es freilich ein Jammer, nicht jedermann daran teilnehmen zu lassen. Aber du weisst, Herr, dass ich am Ende ein paar Freunde brauche. Ich wage nicht, dich um die Fähigkeit zu bitten, die Klagen meiner Mitmenschen über ihre Leiden mit nie versagender Teilnahme anzuhören. Hilf mir nur, sie mit Geduld zu ertragen, und versiegle meinen Mund, wenn es sich um meine eigenen Kümmernisse und Gebresten handelt. Sie nehmen zu mit den Jahren, und meine Neigung, sie aufzuzählen, wächst mit ihnen.
Ich will dich auch nicht um ein besseres Gedächtnis bitten, nur um etwas mehr Demut und weniger Selbstsicherheit, wenn meine Erinnerung nicht mehr mit der der andern übereinstimmt. Schenke mir die wichtige Einsicht, dass ich mich gelegentlich irren kann. Hilf mir, einigermassen milde zu bleiben. Ich habe nicht den Ehrgeiz, eine Heilige zu werden (mit manchen von ihnen ist so schwer auszukommen!), aber ein scharfes, altes Weib ist eines der Meisterwerke des Teufels. Mach mich teilnehmend, aber nicht sentimental, hilfsbereit, aber nicht aufdringlich.
Gewähre mir, dass ich Gutes finde, wo ich es nicht vermutet habe, und Talente bei Leuten, denen ich es nicht zugetraut hätte. Und schenke mir, Herr, die Liebenswürdigkeit, es ihnen zu sagen."

Das mit dem Heiligsein ist so eine Sache. Khalil Gibran erzählte: In meiner Jugend besuchte ich einmal einen Heiligen in seinem stillen Hain hinter den Hügeln. Als wir uns gerade über das Wesen der Tugend unterhielten, sahen wir einen Räuber, der schwerfällig und erschöpft die Anhöhe hinaufstieg. Als der Räuber den Hain endlich erreicht hatte, kniete er vor dem Heiligen nieder und sagte:
"O heiliger Mann, ich suche Trost bei Dir, denn meine Sünden bedrücken mich sehr!" 
Der Heilige antwortete: "Auch meine Sünden bedrücken mich!"
Der Räuber sprach: "Aber ich bin ein Dieb und Plünderer."
Der Heilige entgegnete ihm: "Auch ich bin ein Dieb und Plünderer."
Der Räuber fuhr fort: "Ich bin sogar ein Mörder, und das vergossene Blut vieler Menschen schreit in meinen Ohren." 
Der Heilige antwortete: "Auch ich bin ein Mörder, und auch in meinen Ohren schreit das Blut vieler Menschen." 
Der Räuber sprach: "Ich habe zahllose Verbrechen begangen."
"Auch ich beging Verbrechen ohne Zahl", erwiderte der Heilige.
Da stand der Räuber von seinen Knien auf und starrte den Heiligen fassungslos und mit einem sonderbaren Blick an. Nachdem er uns verlassen hatte, hüpfte er leichtfüssig den Hügel hinunter. 
Ich fragte den Heiligen: "Warum hast Du Dich all der Verbrechen bezichtigt, die Du nie begangen hast? Hast Du nicht bemerkt, dass dieser Mann nicht mehr an Dich glaubte, als er Dich verliess?" 
Der Heilige entgegnete mir: "Es stimmt, dass er nicht mehr an mich glaubte, als er mich verliess. Aber er ging getröstet hinweg."
In diesem Augenblick hörten wir den Räuber von weitem singen, und das Echo seines Liedes erfüllte das Tal mit Freude. Er war getröstet. Er hatte erhalten, was er gesucht hatte beim Heiligen.

Ich sehe den beherzten Vertreter einer evangelischen Freikirche in der Kapelle von Sihlcity vor mir, der die Frage stellte, wie wir auf das Ziel hinarbeiten, die einzelnen Ratsuchenden wieder vermehrt auf die Landeskirche hin zu begleiten. Und wie ich ihm die Antwort gab, dass es in der Seelsorge zunächst darum gehe zu schauen, was uns von Gott und dem Glauben an seinen Sohn Jesus Christus trennt. Und was uns hindert unserer Bestimmung nachzuleben. Und dann gehe es um die Frage, ob wir in einer Kirchgemeinde aufgehoben sind. Das ist ganz wichtig. Unser Glaube wird gestärkt durch die Gemeinschaft der Familie Gottes, durch das gemeinsame Singen "Wohin soll ich mich wenden?" und "Heilig, heilig, heilig ist der Herr." Die Glaubensüberzeugung wird aufgebaut und wir spüren eine Geborgenheit in Gott, die wir nicht mehr missen möchten.

Ich sehe die junge Besucherin der Kirche in Sihlcity, die mit frohem Gesicht erklärte, sie habe früher immer gemeint, sie wolle zuerst noch „leben“, bevor sie sich dem Glauben zuwende. Nun habe sie jedoch entdeckt, dass sie mit dem Glauben besser leben könne. Sie geniesse oft die stille Einkehr in der Kapelle.
Der laufenden Plakat-Kampagne "Da ist wahrscheinlich kein Gott – also sorg dich nicht, geniess das Leben" könnte freudig entgegengehalten werden: "Gott hält deine Zweifel aus. Er will nicht, dass du dich sorgst um, sondern dass du sorgst für – und das Leben geniesst." Ich finde diese Kampagnen spannend. Sie regen zum Widerspruch an. Wie würde der Ihre lauten?

"Ihr sollt heilig sein" – das ist nicht Singular, wie auch das Gebet "Unser Vater" nur den Plural kennt. Da sind wir nicht allein. Klar bist du gemeint, und auch ich bin gemeint, wir, hier, jetzt, in dieser Stunde und an diesem alten Ort in der Wasserkirche. Hier möchte Jesus sein Reich auf uns bauen, mit unseren Vorzügen und Nachteilen, mit unseren Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten. Aber das geschieht in der Mehrzahl und es geschieht in Aktion, in Interaktion. Gott sagt es uns zu. Er, der heilig ist, der immer war und sein wird immerdar. Er sagt es zu seinem Volk. Das ist auch eine Identität, eine, die uns gegeben ist, wenn wir sie nur dankbar annehmen, festhalten und pflegen.

Es kommt mir auch ein Wandvers im Jan-Hus-Haus in Konstanz in den Sinn, der so geht:
"Nichts Rühmlicheres können wir vollbringen, als danach zu trachten, dass unter den Christen wahrer, echter und dauernder Frieden, Eintracht und Liebe herrschen."
Nichts Rühmlicheres also als Frieden, Eintracht und Liebe unter uns. Hei, wäre das mal was! Wäre das mal was anderes als Rechthaberei, Machtgebaren und Imponiergehabe auf der einen Seite – und Zerknirschtheit, Ängste und Ohnmacht auf der anderen Seite. Die beiden Seiten kämen zusammen, sie wären ganz, heil. Bei allen Unterschieden, die auch bereichernd sein können.
Wir mögen es ausweiten auf alle Menschen. In diesen Tagen hat der emeritierte St. Galler Professor und Rektor Alois Riklin die Ringparabel von Lessing als Vorläufer des Weltethos von Hans Küng bezeichnet und auf ihren Ursprung in der Sure 5, Vers 48 des Korans verwiesen. Dort lesen wir die Worte: "Wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Doch er will euch in dem prüfen, was Er euch gegeben hat. Wetteifert darum im Guten. Zu Allah ist euere Heimkehr allzumal, und Er wird euch dann darüber aufklären, worüber ihr uneins seid." Ob das auch für uns gilt, dass Gott uns die Unterschiede dereinst erklären wird – und wir unsere Kräfte besser daran setzen, im Guten zu wetteifern?

"Ihr sollt heilig sein." Ich weiss wie weit wir davon entfernt sind. Als Einzelne, als Kirche, als Volk Gottes. Das ist aber kein Grund es nicht zu hören. Hab ich es gehört? Hören wir es? Und es gibt keinen Grund, sich nicht von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und aller Kraft daran zu erfreuen und sich ermutigen und kräftigen zu lassen. Dass Gott uns so was gibt. Er ist gross!

Amen.

last update: 10.09.2015