Glückliches Menschenherz!
NACHPREDIGTEN ZU HEINRICH LANG
Passionszeit
Was heisst Busse?
Wache auf, der du schläfst,
und stehe auf aus den Toten,
und der Christus wird dir leuchten!
(Epheser 5,14)
"Das Weizenkorn muss in die Erde gelegt werden und ersterben,
wenn es
lebendig werden und Früchte bringen soll, und eine Frau muss viel
Schmerzen leiden und grosse Traurigkeit haben, wenn der Mensch zur Welt
geboren werden soll, und ebenso geht es nicht ab ohne gewaltige
Geburtsschmerzen,
wenn der neue geistige Mensch in uns geboren werden und erstarken soll.
Es setzt gewaltige Anstrengungen ab, ehe der Stein von dem alten Grabe
der Sünde weggewälzt ist; es gilt Kämpfe auf Leben und Tod,
bis der alte natürliche Mensch ertötet ist; aber es gibt keinen
anderen Weg zum Licht als durch die Nacht, zur Freiheit als durch
Kampf.
Lass dich`s nicht wundern, wenn Jesus, dessen Joch ja so sanft und
dessen Last so leicht ist, sein öffentliches Auftreten ankündigt
mit dem Ruf: Tut Busse, denn das Reich der Himmel ist genaht!
Ärgere dich nicht an seinem Kreuz und seiner Dornenkrone und an
seinem Ausspruch: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst
und
nehme sein Kreuz auf sich.
Lass dich nicht abschrecken durch das härene (d.h. behaarte, gemeint
ist kamelbehaarte) Gewand, in welchem ein Johannes dem Herrn den Weg
bereitet.
Sei getrost: Für die Überwinder ist eine Palme bereit. Aus
den Todeskämpfen des alten Menschen erhebst du dich zu geistiger
Erneuerung,
und wenn der Mensch einmal zur Welt geboren ist, so hat sich die
Traurigkeit
in Freude verwandelt."
So leitet Heinrich Lang - ein begnadeter Kanzelredner des 19.
Jahrhunderts
- seine Busspredigt zu unserem Text ein. Was er da sagt, ist aus
eigenem
Erleben und ehrlichem Glauben geschöpft. Darum sind seine Worte und
die Art seiner Bibelauslegung bis heute nicht überholt, sondern
aktueller
denn je. Denn was brauchen wir dringender, als eine Verkündigung,
die aus dem Erleben schöpft, und einen unmittelbar und reinherzig
mitgeteilten Glauben? Was brauchen wir dringender als die Kraft, die
nicht
enttäuscht, und Wege, die nicht in die Irre führen? Was brauchen
wir dringender als ein klares Wort?
Heinrich Lang ist es gegeben worden. Dabei war er sich bewusst, dass
er auf seine Weise, mit den ihm gegebenen Mitteln verkündigte. Seiner
Predigtsammlung schickte er deshalb die Worte voraus:
"Es sagen`s aller Orten
Alle Herzen unter dem himmlischen Tage,
Jedes in seiner Sprache,
Warum nicht ich in der meinen?"
Zunächst vernehmen wir einiges aus seinem seltsamen, bewegten
Leben:
Im Pfarrhaus zu Frommern, einem Dorf auf der schwäbischen Alb,
erblickte am 14. November 1826 Heinrich Lang das Licht der Welt. Er war
das achte von zehn Kindern und entstammte einer jener württembergischen
Familien, in denen sich der geistliche Beruf durch die Jahrhunderte hin
von einem Geschlecht auf das andere vererbte. Im Kirchenbuch zu
Frommern
ist die Taufe des kleinen Heinrich mit Datum vom 23. November - also im
Alter von bloss neun Tagen! - vermerkt.
Pfarrhaus und Kirche von Frommern am 03.04.1995
Foto: Jakob Vetsch
Im Pfarrbericht von 1827 beschreibt Magister Heinrich Wilhelm
Lang seine
Gemeinde wie folgt: "Frommern liegt ziemlich eben, hätte ohne den
durchfließenden Bach sehr oft Mangel an Wasser, ist gesund und nicht
unfruchtbar, besonders an Kirschen, Erdbirnen, Gras, Dinkel und Hanf;
durch
Viehhandel, Handwerke, Wollenspinnen und Sticken suchen die Einwohner
den
sinkenden Wohlstand noch zu halten. - In geistiger Hinsicht finden sich
bei ihnen keine vorzüglichen Anlagen, aber ein etwas leichter Sinn,
bei dem auch religiöse Eindrücke selten tief dringen; indessen
haben sie dieses mit anderen Gemeinden der Gegend gemein, und ebenso
eine
gewisse äussere Roheit, die längst in der Gegend einheimisch
ist; übrigens ausserdem zu den ordentlichen Gemeinden gehörend,
unterscheiden sie sich zu ihrem Nachteil von anderen durch auffallend
sparsamen
Nachtmahlbesuch. - Dasselbe gilt fast durchaus auch von den Filialisten
(gemeint sind die zugehörigen Dörfchen Weilheim und Waldstetten),
nur dass diese genug Wasser haben, hingegen weniger fruchtbar und darum
auch in geringerem Wohlstande sind..." Für die dortige Gallus-Kirche
findet er die lobenden Worte: "In ihr zu predigen, ist eine
Lust."
Seinen Vater aber, der ursprünglich aus Nürtingen stammte,
schilderte Heinrich Lang später als "ernste, einsame, meditierende
Natur. Wir sahen ihn selten anders als in Gedankenarbeit begriffen.
Sei`s,
dass er seinen täglichen Spaziergang weit über das Dorf hinaus
machte, oder stundenlang im Schlafrock mit der langen Tabakpfeife im
Garten
auf- und abging, oder abends beim Krug Bier am Fenster sass, wir sahen
ihn fast immer lesen oder über etwas nachsinnen."
So lag die Erziehung der Kinder völlig in den Händen der
Mutter, welche mit ihrer Lebenslust, dem Frohmut und der Offenheit das
wohltuende Gegenstück zum in sich gekehrten Vater bildete. Goethes
Wort scheint hier angebracht:
"Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen;
Vom Mütterchen die Frohnatur,
Und Lust zu fabulieren."
Während seinen theologischen Studien an der Universität und
im Stift zu Tübingen - wo er 1848 ordiniert wurde - kam Heinrich Lang
mit Schweizern in Kontakt, welche dem zum Königreich Württemberg
gehörenden, an zeitgenössischen Fragen sehr interessierten
Intellektuellen
die demokratischen Vorzüge von Staat und Kirche in der Schweiz
schilderten.
Im Tübinger Stift am 04.04.1995
Foto: Jakob Vetsch
Im Laufe des Septembers im Umbruchsjahr 1848 hielt Lang als
vom Tübinger
Volksverein bestellter Redner einen Vortrag in Reutlingen, wo er mit
allem
Feuereifer für die Abberufung des Parlaments in Frankfurt plädierte
und zur Wahl eines neuen aufrief, das umgehend die deutsche Republik
einzuführen
hätte. Die Rede brachte ihm viel Beifall, aber auch eine scharfe Rüge
im "Schwäbischen Merkur" ein, wo zu lesen war, der Urheber solcher
Behauptungen gehörte eigentlich hinter Schloss und Riegel... Als ihn
besorgte Freunde warnten und sich in Stuttgart und Tübingen schließlich
noch die Gendarmerie nach seinem Verbleiben erkundigte, schlug er mit
zwei
Talern in der Tasche (was etwa einem kargen Wochenlohn entsprochen
haben
mag), mit ein paar Hemden und einer Pistole in der Botanisierbüchse
kurzentschlossen den Weg in die Schweiz ein.
Von Konstanz aus meldete sich ein ermüdeter Heinrich Lang ohne
jegliche Ausweispapiere beim Grenzposten Tägerwilen, wo er formgemäss
zurückgewiesen ward. In einer Konstanzer Schenke, wo er bei einem
Bier seine Not klagte, wurde ihm angeraten, es in Rorschach zu
versuchen.
Da bestieg er das nächste Schiff in die Schweiz und schlüpfte,
in Rorschach angekommen, tatsächlich durch!
Noch gleichentags meldete sich der Flüchtling beim sanktgallischen
Regierungsrat Dr. Erpf, der auf vorgebrachte Empfehlung hin versprach,
ihm den Weg bei der kantonalen Kirchenbehörde zu ebnen. Als Lang wenige
Tage später in einer Zeitung die Ausschreibung der offenen Pfarrstelle
von Wartau-Gretschins las, schrieb er in lakonischer Kürze seine
Anmeldung
wie folgt: "Auf die erledigte Pfarrstelle meldet sich Heinrich Lang,
Kandidat
der Theologie, aus Württemberg."
Nachdem die Papiere aus der Heimat eingetroffen und die beiden
vorgeschriebenen
Examen mit Erfolg bestanden waren, wanderte der Kandidat durchs
spätherbstliche
Rheintal ins St.Galler Oberland, wo er die erste Nacht auf einer Bank
im
Unterrichtszimmer des Pfarrhauses Gretschins zugebracht haben soll.
Wartau-Gretschins: Das Pfarrhaus von 1758-1860
mit Kirche
und Burgruine
Zeichnung von Johann Jakob Rietmann, 1808-1868,
St.Gallen
Bald war er einer von zwei Bewerbern, die anlässlich der
ersten
freien Pfarrwahl der eben von der glarnerischen Kollatur gelösten
Kirchgemeinde Wartau-Gretschins eine Probepredigt zu halten hatten.
(Ein
dritter Bewerber, der bereits als Vikar in Gretschins amtete, wurde von
dieser Pflicht befreit - dann aber allerdings auch nicht gewählt.)
Lang, klein von Gestalt, sah sich einem Kontrahenten von stattlichem
Wuchs
gegenüber, der eine so vortreffliche Predigt hielt, daß einem
der anwesenden Vorsteher halblaut - aber für beide Bewerber vernehmbar
- die Bemerkung entfuhr: "Ojeh, Chlina!" Hierauf bestieg der "kleine"
Lang
die Kanzel und predigte aus tiefster Lebens- und Glaubenserfahrung über
das Pauluswort "Uns ist bange, aber wir verzagen nicht!" (2.Kor.4,8).
Der
gleiche Wartauer meinte nun, als Heinrich Lang von der Kanzel stieg:
"Ojeh,
Groassa!" So kam es denn auch: Gewählt wurde der württembergische
Flüchtling, der sich in der Folge als überaus geistreicher,
scharfsinniger
Diener am Wort und eifriger Wahrheitssucher entpuppte.
Seine nicht gerade pfarrherrliche, leutselige Art lieferte sogar in
den umstehenden Gemeinden Gesprächsstoff, doch in Wartau wurden seine
freiheitlich ausgerichteten, erfrischenden Predigten sowie seine
Volksnähe,
der schlagfertige Witz und sein Einsatz im Garten- und Weinbau sehr
geschätzt.
Weil Heinrich Lang wegen seinen Ansichten in allerlei bösen Gerüchten
stand, musste er denn auch längere Zeit um seine Auserwählte
werben. In der Heimat von Ulrich Zwingli gab er einst seinem Unmut über
den Ausbruch eines Gewitters, das eine beabsichtigte Wanderung
verunmöglichte,
mit einem derben Kraftausdruck Luft - und wurde prompt durch ein
schlankes
17-jähriges Mädchen mit feinen Zügen und dunklen Augen zurechtgewiesen!
In der festen Überzeugung, daß er einer solchen Mahnerin zu
Zeiten wohl bedürfe, faßte er den Entschluss, um ihre Hand anzuhalten.
Nach langem Werben wurde die inzwischen 19-jährige Constantia Suter
- Tochter des früheren Pfarrers von Wildhaus und Schwester eines seiner
Tübinger Studienkollegen - am 3. August 1852 seine Lebensgefährtin.
In Wartau schenkte sie dem Sohn Rosemann (geb. 1853) und den drei
Töchtern
Constantia (geb. 1855), Marie (geb. 1859) und Gertrud (geb. 1863) das
Leben.
Später gesellte sich zur großen Freude des Vaters in Meilen
noch der Nachzügler Martin (geb. 1868) zur Familie.
Heinrich Lang entfaltete eine reiche schriftstellerische Tätigkeit,
die ihn weit über die Landesgrenze hinaus bekannt machte. Durch
zahlreiche
Buchveröffentlichungen zu christlichen Themen und die Arbeit als
Redaktor
der neugegründeten Reformschrift "Zeitstimmen aus der reformierten
Kirche der Schweiz" (von 1859 bis 1871, ab 1872 der "Reform") sowie als
erster Präsident des Schweizer Vereins für freies Christentum
trat er entschieden, vehement und kampfeslustig für eine Öffnung
der Kirche und eine lebensnahe Auslegung des Wortes ein, wobei ihm der
Schriftsteller und Pfarrer Albert Bitzius, Sohn des Erzählers Jeremias
Gotthelf, tatkräftig zur Seite stand.
Weil seine Freunde ihn näher bei Zürich haben wollten, folgte
Lang an Ostern 1863 einem Ruf nach Meilen. Er verließ seine geliebte
Berggemeinde ungern. Umgekehrt muß es auch für die Bewohner
der Gemeinde ein großes Ereignis gewesen sein, als eines Morgens
eine ansehnliche Privatkutsche vor dem Pfarrhaus hielt, um die
Pfarrersfamilie
mit ihren vier Kindern nach Meilen zu befördern. Und welche Aufregung
herrschte erst, als das pferdebespannte Gefährt abfahrtsbereit stand
und die vierjährige Tochter Marie nirgends aufzufinden war! Schließlich
konnte sie pflatschnass aus dem Dorfbrunnen herausgefischt und der
übrigen,
wartenden Familie einverleibt werden... Die Berufung nach Meilen war
nicht
ohne Widerstände über die Bühne gegangen. Etliche Zweifler
mussten zuvor noch überzeugt werden, da man ihn für zu wenig
gläubig hielt. Doch bereits nach einem Jahr erhielt Lang das
Bürgerrecht
der renommierten Seegemeinde.
Nach seiner Meilemer Zeit wurde Heinrich Lang 1871 als Nachfolger
Heinrich
Hirzels nach Zürich ins Pfarramt der Peterskirche gewählt, wo
er bald zu einer beliebten, stadtbekannten Grösse wurde.
Von 1872 an diente er auch als kantonaler Kirchenrat.
Herzeleid bereitete
ihm der Entschluss seines älteren 19-jährigen Sohnes Rosemann,
nach Amerika auszuwandern, um dort sein Glück zu versuchen. Das
bedeutete
in jener Zeit den endgültigen Abschied und ein grosses Wagnis. Prompt
erlitt dieser auf der "Europe" Schiffbruch und kam krank und verarmt in
der "Neuen Welt" an; sein Geld und alles, was er hatte, war ein Opfer
der
Wasserfluten geworden. Nach vielen Irrfahrten gelang des dem jungen
Abenteurer
jedoch, als Professor am Yale-College eine Existenz zu gründen.
Irgendwie
hat sich damit das Schicksal des Vaters beim Sohn wiederholt.
Lang litt an einer Gesichtsrose und verstarb nach einem intensiven,
arbeitsamen Leben am 13. Januar 1876 im Alter von nur 49 Jahren.
Nachkommen
von ihm wohnen heute in Zürich.
Prof. Alois Emanuel Biedermann schildert in seinem Lebensbeschrieb
von Heinrich Lang das Anliegen des zeitgemässen Predigers mit den
Worten: "Religiöse Erbauung will er der Gemeinde geben, christliche
Erbauung, Erbauung im wahren christlichen Geiste; aber in der Sprache
und
Form, in welcher sie dieselbe von ihrem natürlichen Bildungsstand
aus verstehen und sich aneignen kann, und nicht in der Form einer auf
allen
übrigen Lebensgebieten entwurzelten Anschauungsweise."
So hat der einstige deutsche Flüchtling Heinrich Lang es verstanden,
unzähligen Menschen in unserem Land und darüber hinaus eine Heimat
zu zeigen, die an keine geografischen und zeitlichen Grenzen gebunden
ist;
eine religiöse Heimat hat er ihnen erklärt. Noch heute trägt
eine im Mai 1876 in St.Gallen ihm zu Ehren gegründete
Stipendien-Stiftung
zur Ausbildung von Theologen seinen Namen. Und in Frommern gibt es eine
Heinrich-Lang-Strasse, an welcher gegenwärtig wieder heimgekehrte,
russische Auswanderer wohnen, die in Russland als Deutsche gegolten
haben
und nun in Deutschland vielfach als Russen betrachtet werden...
"Wache auf, der du schläfst,
und stehe auf aus den Toten,
und der Christus wird dir leuchten!"
Das Leben Heinrich Langs liest sich wie ein Exempel zu dem
uralten Christushymnus.
Wie viele Male galt es da, sich aufzumachen, dem Tode zu entfliehen und
dem Leben entgegenzugehen! Wie fest und zäh hat sich da einer immer
wieder dem Lichte Christi zugewandt und daraus Kraft für sein Leben
geschöpft! Zuerst gilt es, den Schlafenden zu erwecken, und dann wird
der zum Leben Erwachte erleuchtet. Lang meint: "Die Sorgen und die
Wollust
des Lebens und der Betrug des Reichtums haben seinen Geist in Schlummer
gewiegt." Zum Erwachen bringen kann diesen Menschen nur Gott. Und der
probiert
das immer wieder. "Wir sehen die Liebesfeile", fährt Lang fort, "die
Gott in die Welt ausgeworfen hat, um alle in seine Gemeinschaft zu
ziehen.
Es ist nicht das willkürliche Tun eines Gottes, der den einen weckt
und erwählt, den andern fortschlafen lässt und verwirft. Gott
ist vielmehr nicht ferne von einem jeden unter uns."
Darum sollten wir solche Chancen, welche uns im Alltag, in Krankheit
und Not immer wieder gegeben werden, ergreifen und uns mit Gott
versöhnen
lassen. Denn zwischen dem Handeln Gottes in der Natur und am Menschen
gibt
es einen ganz entscheidenden, grossen Unterschied: "In der Natur
schafft
Gott mit Notwendigkeit, in der Menschenwelt unter der Form der
Freiheit."
Wir haben die Freiheit, uns für Gott und das echte, wahre Leben zu
entscheiden. Wohl deshalb mahnte Carl Hilty (1833-1909): "Die Reue
allein
ist noch keine Befreiung von Schuld, sondern erst die vertrauensvolle
Zuwendung
der Seele zu Gott."
Der Erwachte "wird" sodann "mit der Fackel der Lebensworte Jesu Christi
in den dunkeln Schacht seines Innern, in den tiefsten Kern seines
Wesens
hinabsteigen." Lang fährt fort: "Weg mit allen Täuschungen und
Blendwerken, mit denen das selbstgerechte Herz sich in süssen Schlummer
einzulullen pflegt! Gerade sei es herausgesagt: Ich bin der blinde
Pharisäer
gewesen, der die Schüsseln auswendig rein hält, während
sie inwendig voll Unrat sind. Mein Herz ist das übertünchte Grab
gewesen, äusserlich geschmückt und geziert, dass man wähnte,
der üppige Frühling habe da seine Lebensblüten entfaltet,
aber, genauer betrachtet, voll Moderduft und Totenbeine. Mir also, mir
gilt in vollstem Masse das Wehe, das Christus über die Pharisäer
ausgesprochen hat. - Das ungefähr wird die Sprache der Gedanken sein,
die sich in dem Herzen des Sünders untereinander verklagen, wenn er
anfängt, erleuchtet zu werden und in sich zu gehen, und wenn er so
sein bisheriges Leben überschaut." Und man kann ihm nur zurufen: "Glück
zu, du bist auf dem einfachsten und richtigsten Wege; indem du es
gewagt
hast, in dein innerstes, reinstes Selbst hinabzusteigen, mit welchem du
in der Tiefe der Gottheit wurzelst, wird dir von da ein Lebensstrom
entgegenquellen,
welcher, wie er für künftig die Kraft zu allem Guten in sich
trägt, so zugleich die Macht hat, alle alten Wunden und Schäden
des Gemütes zu heilen und alle Flecken abzuwischen. - Darum, wache
auf, der du schläfst, so wird Christus dich erleuchten!" Soweit
Heinrich
Lang zum Thema Busse. Wir dürfen der Wahrheit ungeschminkt ins Gesicht
sehen, und sie wird uns frei machen.
"Blind ist nicht, wer sein Augenlicht verloren hat, sondern wer seine
Fehler verbirgt", hat Mahatma Gandhi (1869-1948) einmal gesagt.
Christus
befreit uns von solcher Dunkelheit. Er befreit uns aus dem Tod ins
ewige
Leben hinein.
Und wann sollen wir Busse tun? Die jetzige Zeit eignet sich dazu
besonders.
Denn die Passionszeit vor Karfreitag und Ostern ist eine Busszeit
genaugleich
wie die Adventszeit vor Weihnachten eine Busszeit ist. Busse, Tilgung
der
alten Hypotheken der Seele, Hinwendung zu Gott sind aber nicht an
bestimmte
Zeiten gebunden.
Von Rabbi Eliezer (um 90 n.Chr.) wird das Gespräch
überliefert,
das er mit der Aufforderung begann:
"Tu Busse einen Tag vor deinem Tod."
Seine Schüler fragten ihn: "Weiss denn der Mensch, an welchem
Tag er sterben wird?"
Der Rabbi antwortete: "Um so mehr soll er heute Busse tun, da er morgen
vielleicht stirbt; und so wird er sein Leben lang in Busse erfunden
werden."
Das entspricht der Einstellung von Martin Luther, der das
ganze Leben
als eine einzige Busse, als eine einzige Hinwendung zu Gott aufgefasst
hat. Sind wir nicht Glückliche, dass wir uns stets aufs Neue Gott
schenken dürfen? Ist das nicht schön, daß er uns immer
wieder aufsucht, uns ruft und zu sich holen möchte? Ist das nicht
eine Geduld und Güte, die wir mit einem freudigen "Ja!" beantworten
und mit Vertrauen erwidern dürfen?
So macht der alte Mensch dem neuen in Christus Platz, und so kommen
Wahrheit und Leben zu uns, Licht und Freude - unabhängig von all dem
Äusseren, das wir vorher für dermassen wichtig gehalten haben.
"Wache auf, der du schläfst,
und stehe auf aus den Toten,
und der Christus wird dir leuchten!"
last update: 02.03.2016
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