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Glückliches Menschenherz!
NACHPREDIGTEN ZU HEINRICH LANG


Karfreitag
Jesu Worte am Kreuz


Vielleicht hat das Leid weniger Worte als die Freude. Es bleibt beim Leid eindrücklicher etwas Unaussprechbares zurück, ein Unbehagen, eine stille Qual. Diese sucht keine Worte, und man muß ihr auch keine geben. Sie ist aufgehoben bei Gott, der allein ins Innerste des Menschenherzens sieht. Leid schnürt irgendwann die Kehle zu, macht stumm. Und wo es noch Worte findet, steckt dahinter viel mehr als je mit Worten ausgedrückt werden kann. Darum hören wir besonders aufmerksam auf solche Worte. Was hat Jesus am Kreuz eigentlich gesagt? Welches waren seine letzten Worte vor der Hinrichtung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, der Gott aber eine neue Richtung gab nach vorne, in die Zukunft, ins Leben hinein? In den verschiedenen Evangelien lesen wir folgende Worte Jesu am Kreuz: 

- "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Matthäus 27,46) 
- "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" (Lukas 23,34) 
- "Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!" (Lukas 23,46) 
- "Es ist vollbracht!" (Johannes 19,30)

Bei jeder dieser kostbaren Perlen wollen wir ein wenig verweilen - im Wissen darum, daß nicht alles gesagt und gedacht werden kann. Mit unserem Denken und Sprechen werden wir das Leben nie fassen können. Es umgibt und umfaßt aber sehr wohl uns.

1.) "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

In tiefster Menschenverlassenheit schreit Jesus die Klage der Gottverlassenheit in die Welt hinaus. Wir empfinden Menschenverlassenheit als Gottverlassenheit. Daher reden wir vom "gottverlassenen Kaff" und nicht vom menschenverlassenen. Abwesenheit von Freunden, Ablehnung durch Menschen, Roheit und Gemeinheit geben uns das Gefühl des Verlustes der Gnade und der Hinwendung Gottes. Das ist aber nicht so. Im Gegenteil: wo Menschen fehlen, eröffnet sich Gott; wo Menschen schweigen, will Gott mit uns reden. 
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Ein Verzweiflungsruf Jesu, ein happiges Zitat aus dem 22. Psalm. Jesus leidet unschuldig. Das Tun-Ergehen-Verhältnis ist gesprengt. Hier leidet jemand ohne Schuld. Und er schreit es hinaus.
Manchmal ist es interessant zu hören, was vom Christenberuf unbelastete Leute des öffentlichen Lebens, die über diesen Tod Jesu und seine Worte nachgedacht haben, dazu sagen: "Ich weiß, wovon ich spreche", meinte der französische existentialistische Schriftsteller Albert Camus (1913-1960). "Es gab eine Zeit, da ich keine Minute wußte, wie ich die nächstfolgende erreichen sollte. Ja, man kann auf dieser Welt Krieg führen, Liebe äffen, seinen Nächsten martern, sich in den Zeitungen großtun oder einfach beim Stricken wider seinen Nachbarn Übles reden; aber in gewissen Fällen ist das Weitermachen, das bloße Weitermachen etwas Übermenschliches. Und er war kein Übermensch, das dürfen Sie mir glauben. Er hat seine Todesangst herausgeschrien, und darum liebe ich ihn, meinen Freund, der da starb mit der Frage auf den Lippen." 
Jesus als einer von uns, mit unseren Ängsten, die er erst noch hinausschreit! Und darum können wir ihn lieben. Für Hildegard Knef (geb. 1925) - die deutsche Schauspielerin und Chansonsängerin - gewinnt Jesus an Nähe: "Sein Schrei macht ihn erreichbar. Daß er geschrien, macht ihn menschlich. Die Überforderung, die er für mich darstellt, weicht. Die Entfernung verringert sich nicht nach unten: er steigt nicht herab, er zieht herauf, sein Schrei macht meinen verzeihbar. Warum schreien wir nicht mehr, denke ich. Warum schreien wir nicht in diesem Sparta des Overkill, der Boutiquen und Trends, der Fitmacher, Zielgruppen und Wehleidigkeit? Warum nicht? Es ist nichts als Feigheit, das Leid und den Tod zu ignorieren, sie durch Brutalität lächerlich zu machen. Wir haben das Drama erfunden, um den Tod freizusprechen, um ihn abzuleugnen oder um sagen zu können: Da ich ihn nicht kenne, gibt es ihn nicht. Er hat geschrien. Wie groß muß unsere Angst sein, daß wir den Tod lächerlich machen müssen." 
Jesus als einer von uns, mit unseren Ängsten, zu denen er steht und die er hinausschreit! So macht er uns Mut, das rauszulassen, was wir zum Schreien finden. Und er gibt uns Grund, Leiden zu mildern, statt uns mit dem Hinweis auf die Eigenschuld vornehm zu distanzieren.

2.) "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!"

Ein kleines Mädchen, das mit Mückenstichen übersät ist, fragt mich: "Weiß die Mücke, daß mir das weh tut, oder weiß sie es nicht?" Natürlich weiß es die Mücke nicht. Das Mädchen ist beruhigt... 
Aber, Hand auf´s Herz: Weiß es der Mensch, der Böses tut, oder weiß er es nicht? Man müßte meinen, er weiß es. Umso verblüffender mutet der Schluß an, zu dem Heinrich Lang kommt und den er recht hartnäckig vertritt: "O wie viel verträglicher, duldsamer und sanftmütiger würden wir werden, wenn wir die Fehler unserer Mitmenschen betrachten lernten wie sie Christus betrachtet hat! Wie viel öfter würden wir beten: Vater, vergib ihnen!, wenn wir bedächten, daß die Menschen, wenn sie fehlen, nicht wissen, was sie tun!. Dort ist einer, der mit wahrer Satansfreude anderen Menschen zu schaden sucht, ihnen durch Kränkungen und Verleumdungen das Leben verbittert. Ihr denkt vielleicht an den oder jenen aus eurer Bekanntschaft und sprechet: O, die wissen, was sie tun. Mit absichtlicher Bosheit legen sie dem Nächsten Schlingen. Schaden und Kränkungen ist ihre Freude. - Aber ich sage: Nein, sie wissen nicht, was sie tun. Wüßten sie es, wüßten sie, welch eine schwere und drückende Last es ist, ein von Bitterkeit und Groll erfülltes Herz mit sich herumzutragen; wüßten sie, welch ein Glück es ist um ein christliches Gemüt, das des Morgens beim Erwachen Heil und Segen erfleht für alle Menschen und des Abends beim Unser Vater alle, Nahe und Ferne, Freunde und Feinde, in sein Gebet einschließt; welch eine Seligkeit es ist um ein Herz, das rufen kann: Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt! wüßten sie das, hätten sie das jemals an sich erfahren, von Stund an würden sie Haß und Bitterkeit von sich werfen." 
Daraus folgt eine neue Einstellung zum Mitmenschen, der andere plagt und Böses tut: "Du wirst von einem Mitmenschen hartnäckig beleidigt oder gekränkt, bedenke, er ist ein Irrender, er weiß nicht, was er tut. Oder weiß er´s denn? Er meint, dir schaden zu können; aber du bist ja festgewurzelt in deinem Gott. Wem schadet er also? sich selbst; sich selbst macht er bittere Stunden durch sein grollendes Herz; sich raubt er die schönsten Trostgründe der Religion; sich stößt er durch seine Herzenskälte immer mehr aus dem Reich der Liebe und Güte. Also wußte er offenbar nicht, was er tat. Darum fühle Mitleid, Barmherzigkeit gegen ihn, statt Haß und Groll." 
Mit Überzeugung doppelt Lang in seinem feurigen Plädoyer für ein versöhntes Herz nach: "Betrachte den Mitmenschen, der gegen dich fehlt, als einen Irrenden, der nicht weiß, was er tut. Nimm an seinem Fehler ein Beispiel und denk an deine eigene Schwäche. Heute fällt er und bedarf deiner Geduld und Hilfe; morgen fällst vielleicht du und bedarfst des Gleichen. Du gehst auf demselben schlüpfrigen Weg, auf welchem dein Nächster gefallen ist." 
Das zweite Wort zeigt uns einen Jesus am Kreuz, der noch an das Seelenheil seiner Peiniger denkt. Er vergibt ihnen und bittet Gott, es auch so zu halten. Wer Böses tut, weiß nicht wirklich, was er tut. Er braucht Vergebung. Und wie schnell sind wir selbst es, die der Vergebung bedürfen!

3.) "Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!"

Nach dem Vergebungswort vernehmen wir das Ergebungswort. Darin liegt eine ganz große Festigkeit. Geist wird Händen anbefohlen. Das sprachliche Bild nennt ein materielles Gefäß (die Hände) für etwas Immaterielles (den Geist). Ein starkes Stück, ein riesiges, letztes Vertrauen, das aus dem von Jesus am Kreuz genannten Psalmwort (31,6) spricht! Bis dahin ist ein weiter Weg. "Was gäben wir darum, wenn wir eine solche Heiterkeit im Leben und einen so sichern Trost im Tode hätten!" ruft Heinrich Lang. Nur im Einssein mit Gott und im Frieden mit ihm ist dies möglich. 
Nicht selten braucht es dazu ein Leid. Ich möchte dazu auch ein Beispiel nennen: Am 3. Dezember 1964 verstarb in einer Zürcher Klinik der Schauspieler und Regisseur Ernst Ginsberg. Am Schluß seiner mühsamen Krankheitszeit hat ihm sogar die Stimme versagt. Da verfaßte er Gebete in Gedichtform. Eines seiner letzten endet so:

"Ich falte die Hände, die lahmen, im Geist 
und bete ins Dunkel, daß es zerreißt."

Nach dem Verzweiflungsschrei, dem Vergebungs- und dem Ergebungswort folgt nun der Ruf am Ziel:

4.) "Es ist vollbracht!"

Das heißt: Es ist geschafft. Es ist in Gott erfüllt. Definitiv. Das Licht leuchtet von Ostern her, auch für uns. Nochmals Heinrich Lang: "Es ist vollbracht! - Da hat er auch an dich gedacht! Er sah dich, an die Erde gefesselt, bang um Trost und Licht; aber er wußte, daß er auch für dich eine Erlösung bereitet habe. Er hörte auch deinen Lobgesang zum himmlischen Vater, er sah deinen heiteren Frieden und deine Todesfreudigkeit. Drum sprach er: Es ist vollbracht! ... Von Christus lernen wir die Welt überwinden und ihre Widersprüche lösen: begütert sein im Mangel, fröhlich in der Traurigkeit, unbelohnt und doch belohnt, reich ohne Geld, geehrt in der Unehre, selig in Not und Tod, das ist die Inschrift, welche auf der Stirne eines jeden Christusjüngers zu lesen ist."

Diese knappen vier Worte Jesu am Kreuz markieren Stationen des Lebens. Wir können uns in alle einfühlen. Wir können uns an ihnen orientieren. Sie bieten uns Halt - ohne uns festzunageln. Sie machen uns frei.



last update: 26.08.2015