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Matthäuskirche Zürich, 15. Dezember 2002
WARUM DIE LIEBE ZU UNS MENSCHEN KAM
Predigt von Pfr. Jakob Vetsch


So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde.
Johannes 3,16+17

Advent und Weihnachten ist eine Zeit, in der wir uns besonders viel zuliebe tun. Unsere Gedanken wandern zu den Familienangehörigen und Freunden, aber auch zu Einsamen, Kranken, Gefangenen, Leidenden und Hungernden in aller Welt. Wir möchten Kraft übermitteln, ein Hoffnungslicht bringen und mit einem Geschenk Freude bereiten. Wir ersehnen Gemeinschaft und Harmonie, die auf glückliche Weise verbindet. Wir streben nach Frieden und Heil, um das Fest möglichst ungetrübt geniessen zu können und das schöne Gefühl zu haben, die Welt, die grosse draussen und die kleine um uns herum, sei in Ordnung. Das möchten wir!
Und doch entgeht es unserer Aufmerksamkeit nicht, dass eben so vieles im Argen liegt, und dass das Böse trotz des Kommens und der Gegenwart Christi munter seine Sumpfblüten treibt, die das fruchtbare, gute Leben überwuchern und ersticken wollen. Manchmal flackert diese gefährliche, verzehrende Flamme auch mitten unter uns auf, in unserem Leben und in unseren Familien. In einer so eindrücklichen Zeit wie im Advent und an Weihnachten empfinden wir dies ganz besonders.
Und so mag die Frage uns beschäftigen, wozu Christus eigentlich auf die Welt gekommen ist, wofür er denn starb am Kreuz, und was die 2000-jährige Kirchengeschichte soll, wenn es doch nicht besser steht um den Frieden in der Welt und im Herzen. War alles umsonst, oder machen wir etwas Grundlegendes falsch? Ist die Botschaft nichts wert, oder liegt es am kargen Boden, der sie zuwenig aufnimmt? Stecken wir unsere Ziele zu hoch, oder sehen wir das Gute hie und da zu wenig? Solche und andere Zweifel suchen uns heim, und wir fragen uns, warum die Advents- und Weihnachtszeit eine besondere Zeit der wohltätigen Liebe ist: Warum kam die Liebe zu uns Menschen? Warum steht sie in der Mitte der Zeit und des Evangeliums Jesu Christi?

Eine alte Legende aus Israel erklärt: Als Gott, der Vater, am sechsten Tag seines Schöpfungswerkes noch einmal mit sich zu Rate ging, ob er den Menschen schaffen und wie er ihn schaffen sollte, da waren seine drei liebsten Töchter bei ihm: die Weisheit, die Gerechtigkeit und die barmherzige Liebe. Zuerst trat die Weisheit auf und sagte: "Vater, schaffe den Menschen nicht. Er wird deiner Weisheit nicht folgen. Die Menschen werden sich selbst zu Narren machen. Dafür ist deine Schöpfung zu gut! Gib sie dem Wahnsinn der Menschen nicht preis." Gott schwieg.
Dann kam die zweite Tochter, die Gerechtigkeit, zu Wort und sagte: "Vater, schaffe den Menschen nicht. Denn er wird deine Gerechtigkeit verwerfen. Es wird eine Schwester die andere verleumden vor dir und vor den Menschen. Es wird ein Bruder den anderen hassen, ja sogar töten. Die Menschen werden sich um Gerechtigkeit nicht scheren. Sie werden in ihrer Ungerechtigkeit und in Angst und Hass die Hölle aus deiner Welt machen!" Und Gott schwieg.
Da trat  die dritte Tochter, die barmherzige Liebe, vor und sagte: "Vater, was meine Schwestern vorbrachten, trifft zu. Es wird das eintreten, was sie vorausgesagt haben. Aber schaffe den Menschen doch! Schenke ihm als einziger Kreatur Freiheit und Liebe. Zwar ist Freiheit missbrauchbar und Liebe verletzlich. Aber sie beide machen die Würde des Menschen und deines Schöpfungswerkes aus. Ich will zu den Menschen hinabsteigen und will sie Liebe und Freiheit lehren. Ich will sie selber lieben so, wie sie sind. Dann erst wird deine Schöpfung vollendet sein. Denn die Krone deiner ganzen Schöpfung wird Liebe sein. Ich gehe zu den Menschen, und wenn es mich das Leben kostet." Da nahm Gott, der Vater, diese seine Tochter in die Arme, küsste sie, und danach schuf er den Menschen.

Die Nüchternheit, der Realitätssinn und die Versöhnlichkeit dieser alten Erzählung überraschen. Es besteht kein Zweifel: "Der Mensch wird deiner Weisheit nicht folgen." Und: "Die Menschen werden sich um die Gerechtigkeit nicht scheren." Und doch: "Schaffe ihn! Schenke ihm Freiheit und Liebe." Und diese Tochter, die Liebe, weiss, dass folgendes dazu gehört: "Ich will zu den Menschen hinabsteigen und will sie Liebe und Freiheit lehren. Beide machen die Würde des Menschen aus." Und sie weiss gleich auch noch, dass sie sich aufopfern muss: " ... und wenn es mich das Leben kostet."
In diesem ganzen Spannungsbogen, der da aufgezeigt wird, befinden wir uns! Auf der einen Seite die Weisheit, die abgelehnt wird, und die Gerechtigkeit, die allzuschnell fallengelassen wird, und auf der anderen Seite die geschenkte Freiheit und das Bedürfnis nach und die Fähigkeit zur Liebe! Diesen Spannungsbogen zwischen Egoismus und edler Gesinnung, zwischen Torheit und hohem Werk, zwischen Tod und Leben möchte ich sagen, beschreibt die Geschichte. Und wie recht hat sie, dass Freiheit und Liebe die Würde des Menschen ausmachen, bedeuten doch Unfreiheit und Lieblosigkeit die grösste Erniedrigung und Entwürdigung des Menschengeschlechts! Ganze Völker, denken wir gerade an das jüdische, haben dies schmerzvoll erfahren, aber auch viele Einzelschicksale zeugen davon. Würde gibt es nur in Verbindung mit Freiheit und Liebe.
Ich kann diesen Spannungsbogen zwischen Würde und Demütigung nicht beschönigen. Er ist da, und in dieser Gefahr schweben wir wohl immer, hin und her tanzend auf dem Seil zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Das Böse kann in diesem Leben nicht ausgerottet werden. Man kann aber umgehen mit dem Bösen, und man kann ihm das Gute, das einst siegen wird, mit aller Kraft entgegenhalten! Da weist uns die Geschichte den Weg: "Ich will sie Liebe und Freiheit lehren. Ich will sie selber lieben so, wie sie sind. Dann erst wird deine Schöpfung vollendet sein."
Wenn wir uns vorhin fragten, warum die Liebe zu uns Menschen kam, so liegt darin die Antwort begründet. Sie kam offensichtlich nicht zu uns, um uns ein für alle Mal zu überfluten und zu beglücken, sondern um uns zu lehren und die zarte, erleuchtende und nicht verzehrende Flamme der Liebe in uns stets aufs Neue zu entfachen! Liebe ist nicht ein Ort, wo sich gut ruhen lässt, sondern sie ist eine Lehrmeisterin, die uns an der Hand nimmt und uns auf den Weg des Lebens führt! Darum sagte unser Meister Jesus Christus, er habe keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen könne, er sei der Weg, und er habe uns ein Vorbild gegeben, dass auch wir tun, wie er getan hat. Er ist diese "Tochter" des Vaters, die Liebe, die uns zu lehren und uns zu lieben kam. Und es kostete ihn das Leben. Er ist die Vollendung, die Krone der Schöpfung, Sinn und Mitte der Zeit! Von diesem Leitstern der Liebe, der die Weisheit und die Gerechtigkeit Gottes miteinschliesst, dürfen wir uns führen lassen auch durch unsere Zeit, durch alle Widerstände und Widersprüche des Lebens hindurch.
Das Leben ist eine Lehre, ein Weg, auf dem die Liebe als Lehrmeisterin uns führt. Und die Adventszeit ist immer etwas Besonderes in der Zeit der Lehre des unvergänglichen Lebens. Denn da kommt die Liebe uns entgegen, da kommt sie zu uns Menschen, auf dass sie mehr und mehr für die ganze Schöpfung zu einem Segen werde!


last update: 11.03.2015