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Predigt vom 9. Januar 2005, gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in Zürich-Matthäus Der Morgen "Lass mich deine Huld erfahren am frühen Morgen; denn ich vertraue auf dich." Psalm 143,8 Die heutige Predigt ist der Morgenzeit gewidmet. Wir fragen nach der Bedeutung des Morgens für den Tag, für das Leben, für den Glauben. Welche besondere Chance liegt in der Morgenzeit? Was hat es mit dem altbekannten Wort auf sich "Morgenstund' hat Gold im Mund"? Wie ist das Morgengebet zu verrichten? Der Morgen ist eine besondere Zeit des Tages. Die Finsternis weicht, die Nacht geht zu Ende. Das Licht der Sonne geht neu auf; ein neuer Tag bricht an. Der Tau am Morgen ist erfüllt von Klarheit, die Morgenröte trägt Hoffnung in sich. Der Psalmendichter (30,6) singt: "Wenn man am Abend auch weint,
am Morgen herrscht wieder Jubel." Ja, mit dem Zunehmen des Lichtes nehmen die Sorgen, die in der Dunkelheit der Nacht übergross gesehen wurden, ab. Mit dem Morgen bricht etwas Neues an, in ihm steckt der Keim einer neuen Hoffnung. Und der Urquell dieser Hoffnung ist Gott. Der Prophet Hosea (6,3) kündigt an: "Er kommt so sicher wie das
Morgenrot."
Diese helle Zuversicht des Propheten können wir nur dann nachvollziehen, wenn es nicht nur in der Natur, sondern auch in unseren Herzen immer wieder hell wird. So schreibt Petrus in seinem 2. Brief (1,19): "Das Wort der Propheten ist ein
Licht,
das an einem finsteren Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen." Wir Christen haben die Offenbarung erhalten und glauben daran, dass unser Herr Jesus Christus diese neue, endgültige Morgenröte ist. Der Seher Johannes schreibt in seinem letzten neutestamentlichen Buch der Offenbarung (22,16) von ihm: "Ich, Jesus, bin der strahlende
Morgenstern!"
Ist es nicht schön, dass wir so ein täglich wiederkehrendes Bild für unseren Herrn bekommen? Morgenstern und Abendstern sind derselbe. Und wenn wir ihn sehen, dann dürfen wir denken und von ganzem Herzen daran glauben: Dieser Stern über meinem Leben ist Christus! Mit ihm darf mein Leben neu werden. Ich darf das Alte hinter mir lassen. Ich darf vorwärts schauen. Ich darf mein Leben mit Jesus neu beginnen. Er weist mir den Weg. Er gibt mir die Kraft dazu. Er macht mich neu! Zu allen Zeiten wurde Christus auch als die strahlende Sonne gesehen, die am Ostermorgen aufgeht. Und jeder Sonntagmorgen ist eine kleine Osterfeier, eine Feier des Gedächtnisses der Auferstehung unseres Herrn, des neuen Lebens mit ihm. Darum feiern wir unsere christlichen Gottesdienste jeweils am Sonntagmorgen. Der bekannte niederländische Humanist und Bibelübersetzer Erasmus von Rotterdam, ein Vorläufer und Vorarbeiter der Reformation, betete innig: "Du helle Sonne der
Gerechtigkeit,
gehe auch in meinem Herzen auf, damit ich in deinem Licht wandle und dich schaue." Das Licht des neuen Tages ist auch ein Gleichnis für Menschen, die gerecht und gottesfürchtig leben. Im zweiten Buch Samuel (23,3-4) lesen wir die Worte: "Wer gerecht über die Menschen
herrscht,
wer voll Gottesfurcht herrscht, der ist wie das Licht am Morgen, wenn die Sonne aufstrahlt an einem Morgen ohne Wolken." In Salomos weisen Sprüchen (4,18) steht geschrieben: "Der Pfad der Gerechten ist wie
das Licht am Morgen;
es wird immer heller bis zum vollen Tag." Darum sind auch unsere alten christlichen Kirchen nach Osten gerichtet: Zum Zeichen dafür, dass Christus in unseren Herzen aufscheinen und unsere Herzen ausleuchten soll, sodass nichts anderes darin ist als sein Licht, sein Auferstehungslicht, sein Licht des neuen Lebens. So ist das Anbrechen des neuen Tages auch ein Zeichen dafür, daß Gott uns Menschen immer wieder neu schaffen will. Der deutsche Theologe, der sein Leben im zweiten Weltkrieg lassen mußte, Dietrich Bonhoeffer drückte das so aus: "Jeder neue Morgen
ist ein neuer Anfang unseres Lebens." Die Vertreter der Kraft des positiven Denkens haben das unvergessliche Wort geschaffen: "Heute ist der erste Tag
vom Rest meines Lebens." Der neue Tag, der sich vor uns auftut, ist einmalig. Es hat ihn noch nie gegeben. Und er wird, wenn die Abendsonne am Horizont sachte untergegangen ist, auch nie wieder kommen. Mit jedem Morgen aber können, dürfen und sollen wir neu anfangen. Der römische Gelehrte Seneca pflegte seinen Schülern den Rat ins Leben mitzugeben: "Fang jetzt an zu leben,
und zähle jeden Tag als ein Leben für sich." Der vor allem im französischen Sprachraum bekannte und beliebte Frère Roger, der Gründer der Gemeinschaft von Taizé, hat den Begriff vom "Heute Gottes" geprägt. Er sagt: "Wenn der Mensch sein Augenmerk
darauf richtet,
was ihm das Morgen alles bringen könnte, wird er von Unruhe gepackt. Er kann den Tag, der ihm heute gegeben ist, nicht mehr gut leben; denn er wird hin und her gerissen zwischen den entgegengesetzten Blickrichtungen von Vergangenheit und Zukunft, er lebt wie mit gelähmten Gliedern. Wer aber das Heute des Evangeliums lebt und in der Frische eines jeden Morgens den anbrechenden Tag wie eine Blume pflückt, wird mit Mut und immer neuem Elan den Weg auf Christus hin gehen können." Diese Einstellung trifft exakt die Gute Botschaft der Bergpredigt Jesu. Jesus fordert uns auf, um unser "tägliches Brot" zu bitten und uns keine Sorgen um den morgigen Tag zu machen. Er fordert uns auf, "täglich" unser Kreuz neu aufzunehmen. Wir sollen uns nicht ängstlich sorgen um das Morgen; es genügt, wenn wir die Plage dieses einen Tages bewältigen, den Gott uns zu leben gibt. Darin ist nichts zuviel, und es ist nichts zuwenig; nichts Belangloses ist drin und nichts Unnützes. Jeder neue Morgen ist nicht nur ein neues Kalenderblatt, sondern auch der Beginn einer neuen Schöpfung. Ja, das Schöpfungswerk Gottes pflanzt sich fort. Darum heißt es in den Psalmen (118,24): "Dies ist der Tag, den der Herr
gemacht hat;
wir wollen jubeln und uns an ihm freuen." Mit jedem neuen Morgen nimmt Gott sein Gespräch mit uns Menschen neu auf. "Jeden Morgen weckt Gott, der
Herr, mein Ohr,
damit ich auf ihn höre wie ein Jünger." So klar und scharf formuliert es der Prophet Jesaja (50,4). Er fühlt sich hineingenommen in den Morgen, geweckt von Gott, der sein Ohr öffnet, dass er auf ihn höre als sein Jünger. Das Erwachen in der Morgenzeit lädt dazu ein, sich an denjenigen zu erinnern, der das Leben gibt. Davon zeugen viele Schriftstellen, vor allem in den Psalmen. Ich nenne einige: "Ich will das Morgenrot wecken.
Ich will dich vor den Völkern preisen, Herr, dir vor den Nationen lobsingen." Psalm 57,9 f. "Ich will deine Macht besingen, will über deine Huld jubeln am Morgen." Psalm 59,17 "Herr, früh am Morgen tritt mein Gebet vor dich hin." Psalm 88,14 Auch Jesus betete zur frühen Morgenstunde: "In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten." (Markus 1,35) - "Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel." (Johannes 8,2) Erfahrene Christen empfehlen seit jeher, den Tag mit einem Gebet zu beginnen. Hippolyt von Rom (gest. 235) schreibt in der Apostolischen Überlieferung (35,41): "Sobald die Gläubigen erwacht
und aufgestanden sind,
sollen sie noch vor Beginn ihrer Arbeit zu Gott beten und sich dann an ihre Arbeit begeben." Das ist das berühmte "Ora et labora", das "Bete und arbeite", das nicht nur für die Klöster, sondern auch für unser alltägliches Leben als Christen gilt. Der berühmte Bischof von Genf, Franz von Sales, rät allen Christen: "Die Morgenübung öffnet die
Augen unserer Seele
für die Sonne der Gerechtigkeit. Sie soll kurz und lebendig vollzogen werden; nach Möglichkeit, bevor du aus deinem Zimmer gehst, damit durch diese Übung alles von Gottes Segen befruchtet sei, was du tagsüber tust. Ich bitte dich, sie niemals zu unterlassen." Es ist ein grosser Unterschied, ob wir den Tag aus eigenen Kräften beginnen wollen oder ob wir ihn aus der Gnade und der Kraft Gottes heraus beginnen. Ich denke an den Familienvater von dreizehn Kindern, den Posthalter im Dorf eines Bündner Tales, der sein Haus am Morgen nie verlassen hat, ohne vorher im Gebetbuch auf der "Couch" gelesen zu haben. Diese allmorgendliche Übung blieb im Gedächtnis seiner Kinder, die es mir erzählt haben, unwiderruflich haften. Schon der erste Gedanke beim Aufwachen kann ein Gebet sein, ein Dank oder eine Segensbitte: "Ich danke dir für den neuen Tag.
Ich danke dir, daß du mich so liebst, daß du alles für mich gegeben hast, sogar deinen Sohn mir zum Leben. Segne dieses mein Leben heute, segne alle Menschen, denen ich begegne." Ein solcher Gedanke ist immer möglich, auch wenn man vielleicht noch müde ist, weil man nicht gut geschlafen hat. Es ist nicht nötig, dabei besondere Gefühle zu empfinden; es genügt der von Herzen ehrliche Wille, sich Gott zu schenken und ihm den neuen Tag, alle Menschen und Arbeiten anzuvertrauen. Es ist von Vorteil, dieselbe Zeit zu wählen und dasselbe Gebet zu sprechen, damit es nicht auf einmal ganz wegfällt. Am Morgen bestimmt es sich, wie man den Tag "einfädelt". Darum kleidet Dietrich Bonhoeffer seine Gebetserfahrung in die Worte: "Das Gebet in der Frühe
entscheidet über den Tag.
Vergeudete Zeit, derer wir uns schämen, Versuchungen, denen wir erliegen, Schwäche und Mutlosigkeit in der Arbeit, Unordnung und Zuchtlosigkeit in unseren Gedanken und im Umgang mit anderen Menschen haben ihren Grund häufig in der Vernachlässigung des morgendlichen Gebets." Weil der Betende sich im Morgengebet hineinschwingt in die Einheit mit Gott, beinhaltet der Tag für ihn die Chance zu einer neuen Begegnung mit Gott. Das Gebet hilft, die innere Freiheit und das wahre Leben zu finden. Ein Wanderer, der den Weg kennt, kann sich umschauen, Blumen entdecken, Wolken beobachten ... Ich wünsche uns allen, dass wir möglichst viele Tage unseres Lebens so beginnen und vollenden dürfen, und ich schliesse diese Predigt mit einem Wort über die Zeit von Johann Wolfgang von Goethe: "Die Zeit ist unendlich lang
und ein jeder Tag ein Gefäss, in das sich sehr viel eingiessen lässt, wenn man es wirklich ausfüllen will." Abend und Morgen - Eine Predigt last update: 10.08.2015 |
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