Von dir geht aus mein Recht
Predigt vom 21. Juli 2002 in der Kirche von
Zürich-Matthäus
gehalten von Jakob Vetsch Pfarrer
Höre, o Herr, gerechte Sache, merke auf mein Flehen;
vernimm mein Gebet von Lippen ohne Falsch.
Von dir geht aus mein Recht;
deine Augen schauen Rechtschaffenheit.
Psalm 17,1-3
"Mir will scheinen, die schlechten Menschen bringen es weiter im
Leben!"
"Gibt es eine Gerechtigkeit, wo man doch sieht, wie gut es Leuten geht,
die Unrecht tun?" In meiner Seelsorgepraxis habe ich gelernt, solche
Feststellungen
und Fragen ernst zu nehmen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass
das
Böse oft ein leichtes Spiel hat.
Der Journalist Toni Meissner hat im Jahre 1993 im Kreuz Verlag gar
ein Buch veröffentlicht, in dem er einen merkwürdigen Wandel
der Wertvorstellungen dokumentiert. Er berichtet von der Beobachtung,
dass
sich seit dem Zweiten Weltkrieg die Spielregeln des Zusammenlebens
entscheidend
verändert haben. Was früher als abwegig galt, gilt heute oft
als schick, wird von der Gesellschaft akzeptiert, ja sogar erwartet und
belohnt. Wer sich auf Kosten anderer bereichert und sie über das Ohr
haut, wird gelobt. Meissner weist zum Beispiel darauf hin, dass jene
Autofahrer,
die sich am Fronleichnam 1990 an sämtlichen Säulen an einer Tankstelle
in Köln-Südstadt, die eine Aushilfskraft am Tag zuvor zu sichern
vergessen hatte, gratis bedienten, drei Tage später von einem
Berichterstatter
als "pfiffig" beschrieben wurden! Sein Buch trägt den Titel "Moses,
hol die Tafeln ab" und den Untertitel "Über den Verlust der alten
Tugenden und unsere neue Moral". Es zeigt, wie in unserer Gesellschaft
so ziemlich alle Gebote in das Gegenteil verkehrt werden.
"Gibt es eine Gerechtigkeit, wo man doch sieht, wie gut es Leuten geht,
die Unrecht tun?" "Mir will scheinen, die schlechten Menschen bringen
es
weiter im Leben!" Solche Fragen und Feststellungen sind ernst zu
nehmen.
Hier sitzt einer unschuldig im Gefängnis. Die Füsse in einem Block, der Freiheit beraubt, fleht er nach Gerechtigkeit, die Augen weit aufgerissen, die Hand ausgestreckt:
Höre, o Herr, gerechte Sache, merke auf mein Flehen;
vernimm mein Gebet von Lippen ohne Falsch.
Da zeigt ihm eine Hand vom Himmel herab eine schön ausgeglichene Waage. Der Gefangene ist beruhigt, man kann jetzt auf seinem Gesicht auch Staunen lesen: "Aha, so geht das!" Seine Augen sind nicht nur zur Waage gerichtet, sondern auch auf die Hand, die verbürgt:
Von dir geht aus mein Recht;
deine Augen schauen Rechtschaffenheit.
Dieses Bild aus dem Stuttgarter Psalter,
das um das Jahr 820 herum von einem Mönchen in der Nähe von Paris
gemalt worden ist, empfinde ich ganz stark. Die Szene erinnert auch an
ein Wort aus dem Buch Hiob (19,25-27a): "Ich aber weiss: mein Anwalt
lebt,
und ein Vertreter ersteht mir über dem Staube. Selbst wenn die Haut
an mir zerschlagen ist, mein Fleisch geschwunden, werde ich Gott
schauen.
Ja ich, ich werde ihn schauen mir zum Heil, und meine Augen werden ihn
sehen, nicht als Feind."
Während jener unbekannte Maler mit der Waage ein Messinstrument,
das Zeichen der Gerechtigkeit, darstellte, bedient Hiob sich der
Rechtssprache:
"Mein Anwalt lebt!" Beides hat miteinander zu tun, trägt doch die
römische Göttin der Gerechtigkeit, die Justitia, die Waage als
Symbol.
Hiob wie auch der Psalmdichter gründen ihre Hoffnung nicht auf
irgend einen Gedankengang, eine Idee, einen Einfall, sondern darauf,
dass
Gott lebt und sich zu erkennen gibt! Er demonstriert richtiggehend die
Waage aus dem Himmel herab. Er gibt sich als Anwalt zu erkennen, als
Erlöser,
wie Luther sagt, oder als Löser, wie man auch übersetzen könnte.
Er setzt ins Lot, er befreit. Das Wort bedeutet ursprünglich
Bluträcher,
der die Sühne für einen Ermordeten übernimmt, dann auch
Treuhänder, der das Erbgut verwaltet oder in Verlust geratenes Eigentum
einlöst. Gott nimmt sich also der Sache dessen an, der bedrängt
ist und sich nicht mehr wehren kann. Mehr noch: er macht sich zum
Anwalt
dessen, der gar nichts mehr tun kann: der Sache des Handlungsunfähigen,
des Toten: "Ein Vertreter ersteht mir über dem Staube", also auch
über dem Grab noch!
Wenn das Wirklichkeit ist, wenn das geschieht, dann ist
Gerechtigkeit
immer auch eine intime Angelegenheit zwischen Gott und seinem Menschen.
Ein Geheimnis gewissermassen, in das ein Dritter nur schwerlich (und
ganz
überhaupt nie) hineinschauen kann. Ich darf ihm vertrauen, darf auf
ihn zählen.
Es kommt mir die fünfte Strophe des Liedes "Wer nur den lieben
Gott lässt walten" in den Sinn:
Denk nicht in deiner Drangsalshitze,
dass du von Gott verlassen seist,
dass ihm nur der im Schosse sitze,
den alle Welt für glücklich preist.
Die Folgezeit verändert viel
und setzet jeglichem sein Ziel.
So vertraute, so hoffte Hiob. Und diese Hoffnung war lebendig, weil Gott für ihn und auf seiner Seite war! Er wusste: Es kommen auch wieder andere Tage und bessere Erlebnisse. Es kommt der Tag der Gerechtigkeit, der Tag, an dem ich Gott schauen darf. Hiob sollte sich nicht täuschen: Es kam die Zeit, da Gott ihm antwortete und da er neu anfangen durfte. Das ist ein Wunder zwischen Gott und seinem Menschen.
Hiob und jener Gefangene waren unschuldig. Wie aber steht es mit Schuld? Versagt da unser Glaube, oder kommt hier zum Zuge, dass Jesus den Kreuzestod gerade auch für unsere Schuld erlitt? Das ist nicht immer einfach. Oft muss die Folge der Schuld getragen werden. Doch diese Arbeit lohnt sich, wenn jemand wissen darf: Mein Anwalt lebt, und mit ihm auch ich! Wie es im Psalm 103 heisst:
Der dir all deine Schuld vergibt
und alle deine Gebrechen heilt,
der dein Leben vom Verderben erlöst,
der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit.
Es mag uns vieles zu schaffen machen, aber wir sind nicht ohne
Hoffnung.
Und das ist fundamental wichtig. Der Arzt Josef Rattner schrieb in
seinem
Buch "Psychosomatische Medizin heute" die bemerkenswerten Sätze:
"Offenbar
sind Lebensentfaltung und Hoffnung für das Lebenkönnen unentbehrlich.
Hoffnungslosigkeit ist eine Krankheit zum Tode. In der grauenhaften
Experimentalsituation
der nationalsozialistischen Konzentrationslager starben am schnellsten
jene Häftlinge, die keine Weltanschauung hatten, aus der sie den Sinn
ihrer absurden Situation deuten konnten. Religiös oder politisch
gläubige
Menschen hielten sich länger aufrecht, weil sie sich an ihren
Hoffnungen
anklammern konnten und ihrem Leiden ein Wozu abzugewinnen vermochten.
Wer
irgendwie noch an das Leben glaubt, versinkt nicht so leicht in jene
Lethargie,
die dem Tod den Weg bereitet."
Im lebendigen Glauben des Hiob, des Psalmensängers und des malenden
Mönchen finden wir solche Hoffnung zum Leben: "Von dir geht aus mein
Recht." "Mein Anwalt lebt."
Da die Hoffnung die Nahrung für unsere Seelen ist, dürfen wir sie niemandem nehmen. Es ist Unrecht getan, anderen Menschen die Kräfte zu binden oder an jemandem Rufmord zu begehen. Zu unserer Übung erinnern wir uns immer wieder an die drei Siebe, von denen Sokrates sprach:
Zu Sokrates, einem Weisen des Altertums, kam einmal ein Mann. Der
sagte
zu ihm:
"Höre, ich muss dir etwas ganz Wichtiges über deinen Freund
erzählen!"
"Warte!" unterbrach ihn Sokrates. "Hast du das, was du mir erzählen
willst, schon durch die drei Siebe hindurchgehen lassen?"
"Durch welche Siebe?" fragte verwundert der Mann.
"So hör gut zu! Das erste Sieb ist das Sieb der Wahrheit. Bist
du davon überzeugt, dass alles, was du mir sagen willst, auch wahr
ist?" forschte der Weise.
"Das nicht. Ich habe es auch nur von andern gehört."
"Aber dann hast du es doch sicher durch das zweite Sieb geläutert",
fuhr der Weise fort, "es ist das Sieb der Güte."
Der Mann errötete und antwortete verlegen: "Ich muss gestehen,
nein, ich habe auch dies nicht getan."
"Dann hast du doch wenigstens an das dritte Sieb gedacht und dich
gefragt,
ob es nötig und nützlich sei, mir das von meinem Freund zu
erzählen, was du mir berichten willst?"
"Nützlich? Eigentlich nicht!" entgegnete der Gefragte.
"Siehst du, wenn das, was du mir von meinem Freund hast erzählen
wollen, weder wahr noch gut noch nützlich ist, dann behalt es lieber
für dich!" ermahnte der Weise den Schwätzer. Und dabei lächelte
er gütig.
last update: 03.05.2015