CHRISTentum.ch
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REFORMATIONSFEST


Das Geburtshaus von Huldrych Zwingli in Wildhaus
Foto: Stana Vetsch


Meine Kirche

Ich wünsche mir eine Kirche...

...in der jeder Mensch willkommen ist;
...in der alle wichtig und wertvoll sind;
...in der es zu wirklicher Begegnung kommt;
...in der Liebe wichtiger ist als Grundsätze;
...in der wir gemeinsame Träume entwickeln;
...in der wir einige Träume verwirklichen;
...in der es sehr lebendig zugeht;
...in der Menschen einen Glauben kennenlernen, der etwas mit ihrem Leben zu tun hat;
...in der ich weinen darf;
...in der ich lachen darf;
...in der ich bleiben darf, wie ich bin, und trotzdem Veränderung erfahre;
...in der ich nicht klein gemacht werde, sondern gross und frei.

Rainer Haak


PREDIGTEN


Gedanken zur Ökumene

Liebe Gemeinde!

Es ist Reformationssonntag. Da wollen wir uns auf den Ursprung der protestantischen Bewegung zurückbesinnen, und wir wollen diese Besinnung fruchtbar machen für die Kirche der Gegenwart. Dieses Jahr fragen wir uns ganz besonders: Was für eine Rolle spielt der Glaube in der Ökumene? Ist unser Glaube für das Zusammenspiel der verschiedenen Konfessionen eher ein Hindernis, oder kann er eine Hilfe sein? Wie verstehen wir unseren reformierten Glauben im Hinblick auf die Ökumene? Was für Impulse können wir aus der Reformationszeit für die neue Situation der Gegenwart schöpfen? Was sagen Zeitgenossen zur heutigen Lage der Kirche? - Also: Wie steht es mit uns Reformierten und der Ökumene? 

Im Christentum hat es von Anfang an ganz verschiedene Gruppen und Strömungen gegeben. Ich denke daran, wie der Apostel Paulus um die Einheit der Christen gekämpft hat. "Ist Christus zerteilt?" fragt er zu Beginn des 1. Korintherbriefes bange. Es geht dort darum, dass die einen Paulus, die anderen einem Apollos, weitere dem Petrus und wiederum andere direkt Christus angehören wollen. Darum mahnt und bittet Paulus die Streitparteien in Korinth eindringlich, "dass ihr alle einerlei Rede führet und nicht Spaltungen unter euch seien, dass ihr vielmehr zusammenhaltet in demselben Sinne und derselben Meinung." Der erste Grund für Spaltungen sind also verschiedene Wortführer, die Sympathisantenkreise um sich scharen. Der zweite Grund sind die verschiedenen Begabungen, von denen jeder annimmt, die seinige sei die wichtigste. Die einen sind Apostel, die anderen Propheten, weitere sind Lehrer, wiederum andere betätigen sich als Heiler, andere als Zungenredner oder Ausleger von Zungenreden. Darum entwirft Paulus in 1. Kor. 12 die Vorstellung vom einen Leib und den vielen Teilen. Alle gehören dazu, alle haben eine Funktion, aber es gehören auch alle zusammen und bilden ein Ganzes. Dieses Ganze ist der Leib Christi. Die heutige Situation ist keine andere. Da gibt es verschiedene Bedürfnisse, Geschmäcker, Sympathien, Steckenpferde, Begabungen. - Warum nicht? Das Glaubensleben soll bunt sein. Das ist aber lange noch nicht ein Grund für Verletzungen, Trennungen, Rechthabereien und Machtspiele. Darum müssen wir uns im rechten Verhältnis zum Gan-zen sehen und das Gemeinsame, das viel grösser als das Trennende ist, nicht aus dem Blick verlieren. So lesen wir in Eph.4,3-7: "Seid bemüht, die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens zu bewahren. Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen worden seid zu einer Hoffnung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der über allen und bei allen und in allen ist. Jedem einzelnen unter uns ist die Gnade nach dem Mass der Gabe Christi verliehen worden." Deutlicher kann es ja nicht mehr gesagt werden. Ich bin von daher froh, dass wir wirklich nur noch eine Taufe in der Glaubenspraxis kennen - die Taufe wird von beiden Konfessionen anerkannt, es wird bei einem Konfessionswechsel nicht mehr "umgetauft". Der Glaube, den wir aus der Bibel kennen, darf also kein Hindernis der Ökumene sein - im Gegenteil: gerade wenn wir uns auf den Ursprung unseres Glaubens, die Heiligen Schriften und die Geschehnisse, die sie bezeugen, berufen, müssen wir zusammenfinden. Denn wir sind ein Leib. Dieser Leib ist Christus. Und diesen Leib verletzen, heisst Christus Leiden zufügen. Diesem Leib wohltun, heisst Christus wohltun. 

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht interessant, was ein Psychologe wie Carl Gustav Jung zu den Konfessionen und den Zersplitterungen im Christentum meinte: C.G. Jung schrieb einmal, er unterhalte sich gerne mit Theologen, protestantischen wie katholischen. Die Unterhaltung erreiche allerdings dort ihr Ende, "wo man an die Mauer von Kirche und Konfession anstösst, denn dort beginnt die Rechthaberei... Deshalb lacht der Teufel angesichts der sich befehdenden 400 protestantischen Denominationen und des grossen reformatorischen Schismas. Wenn nicht einmal die christlichen Kirchen sich einigen können! Welch infernalische Blamage!" An anderer Stelle schrieb Jung, jede Versteifung auf konfessionalistische Standpunkte vergrössere den Riss und vermindere die moralische und geistige Autorität des Christentums, aber gewisse Leute seien "wie mit Blindheit" geschlagen... Es geht also auch um die Glaubwürdigkeit des Christentums. Jemand hat einmal gesagt, wir Christen seien noch die einzige "Bibel", die gelesen werde. Die Bibel also werde kaum noch gelesen, aber auf das Verhalten von uns Christen werde geschaut. Durch unser Da-sein und So-sein können wir auf das Christentum aufmerksam machen oder abschreckend wirken. Paulus betont immer wieder die Liebe. In seinem "Hohen Lied der Liebe" in 1. Kor. 13 stellt er die Liebe über alles, sogar über den Glauben: "Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; am grössten aber unter diesen ist die Liebe." Die Theologen haben diese Worte zum Hochzeitstext verharmlost - zur Ehe passen sie natürlich auch, aber nicht nur dazu! Jesus selbst hatte ja gesagt, wie in Joh.13,35 aufgeschrieben steht: "Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt." Und in den Johannesbriefen (1.Joh.4,16) lesen wir: "Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm." In der Liebe bleiben heisst demnach auch in der Wahrheit bleiben. 

Wir sehen: Der Glaube darf kein Hindernis für die Ökumene sein, da ja sonst gerade die "Glaub-würdigkeit" auf dem Spiel steht. Vielmehr ist in der Ökumene der Glaube auf dem Prüfstand. Ich möchte diesen Gedanken anhand des ehemaligen katholischen Theologieprofessors von Luzern und heutigen Bischof von Basel vertiefen. Es ist Kurt Koch, der das Buch "Lust am Christsein" herausgegeben hat. Seinem Kapitel über die Ökumene hat er folgende, vielsagende Überschrift gegeben: "Ökumene als Testfall des Glaubens". Aus diesem Kapitel erzähle ich nun einiges. Die Strophe eines Sinngedichtes, das Friedrich von Logau während des Dreissigjährigen Krieges verfasste, ist bis heute aktuell. Sie heisst: "Luthrisch, päpstlich und kalvinisch, diese Glauben alle drei, sind vorhanden; doch ist Zweifel, wo das Christentum denn sei." Die weiterbestehende Spaltung der christlichen Kirche stellt die Glaubwürdigkeit ihrer Sendung in der heutigen Lebenswelt in Frage. Da der Glaube nur die Einheit der Kirche kennt, nicht aber ihre Trennung, muss die Spaltung der einen Kirche Jesu Christi als jene tödliche Krankheit des gegenwärtigen Christentums diagnostiziert werden, deren Heilung drängt. Der durch das Zweite Vatikanische Konzil ermöglichte Frühling musste einer neuen Eiszeit weichen. Der Grund dafür liegt kaum mehr in der Strittigkeit von Wahrheitsfragen des Glaubens, sondern in der Angst um die Geschlossenheit der Kirche. Es braucht eine gemeinsame Identität und zur Überwindung der Ängste positive Kontrast-Emotionen. Darum kommt heute der unmittelbaren ökumenischen Bewegung vor Ort und an allen Orten grundlegende Bedeutung zu. Es ist nötig, dass man sich intensiver kennenlernt, besonders im betenden und gottesdienstlichen Stehen vor Gott. Ein Wort aus Afrika sagt übrigens: "Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun - dann verwandelt sich das Antlitz der Erde." In diesem Sinne soll gehandelt werden, sodass sich die Kirche von unten her erneuern darf. Eine spezielle Rolle nehmen die konfessionsverschiedenen Ehen ein, denn nach katholischer Überzeugung ist die christliche Ehe als Sakrament die Grundform von Kirche und wird vom Zweiten Vatikanum als "Hauskirche" bezeichnet. Wo könnte man einander - und letztlich Gott - besser, verbindlicher dienen als am Ort des Zusammenlebens? Daher ist die Abendmahlsgemeinschaft in konfessionsverschiedenen Ehen wichtig. Diese sind ein elementarer Lernort der Ökumene und können zu Brücken der Verständigung und der Begegnung werden. Keine Kirche ist so arm, dass sie nicht in der Lage wäre, einen Beitrag zu leisten für eine grössere und geeinte Gestalt der christlichen Kirche. Umgekehrt ist auch keine Kirche so reich, dass sie nicht immer wieder der Bereicherung durch die Gaben der anderen Konfessionen bedürfte. Wer an der Kirchenspaltung festhalten will, der begeht, wie a.Bischof Anton Hänggi unlängst betonte, "eine Sünde gegen den Heiligen Geist". Kurt Koch erkennt für die Spaltung Schuld auf beiden Seiten und fordert ein gemeinsames ökumenisches Schuldbekenntnis. Angesichts der argen Mißstände in der damaligen Kirche sei das Reformanliegen Luthers Not-wendend gewesen. Da dieser aber die Erneuerung der Kirche und nicht eine neue Kirche angestrebt habe, sei die Reformation noch gar nicht gelungen und fertig. Die unverwelkte Aktualität und ökumenische Hilfe Luthers bestehe darin, dass das Gelingen der Reformation erst in der Überwindung der Spaltung und in einer erneuerten ökumenischen Kirche aller Christen erreicht sein werde. Soweit Kurt Koch, mit dem ich einiggehen kann. Angesichts der wunderbaren Vision einer neuen, vereinten ökumenischen Kirche erhebt sich die Frage, wie eine solche entstehen kann und mit welcher Kraft wir die Zeit bis dahin durchhalten. Eine erneuerte, ganzheitliche Kirche entsteht durch das Gebet und dadurch, dass wir sie von Herzen wollen. Und die Kraft durchzuhalten gibt mir die alte Vorstellung, dass es nicht nur die sichtbare Kirche gibt, die schmerzlich geteilt ist, sondern auch die unsichtbare Kirche, die alle Christusgläubigen vereint. Diesen Gedanken wollen wir jetzt in der Stille etwas bewegen: Christus eint alle Christusgläubigen durch ein unsichtbares Band, seine unsichtbare Kirche... Der Heilige Geist eint alle, die ehrlichen Herzens glauben... Gott ist der Vater aller, die ihn mit ganzer Kraft suchen und lieben, wo sie auch seien, wann sie auch lebten; er kennt sie, und sie und wir sind in ihm geborgen... 

Amen.



Grundsätze der Reformation

"Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast, und wovon du völlig überzeugt bist, da du weißt, von wem du gelernt hast, und weil du von Kind auf die heiligen Schriften kennst, die vermögend sind, dich weise zu machen zur Seligkeit durch den Glauben, der in Christo Jesu ist. Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf daß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt." 
(2. Timotheusbrief 3, 14-17) 

Liebe Gemeinde!

An einem Reformationssonntag gehe ich davon aus, daß die Gemeinde etwas darüber hören möchte, was die Reformation gebracht hat und wie es heute weitergehen kann. - Ich meine, sie hat auch ein Recht darauf. - Wenn ich so die Predigtthemen landauf und landab und in den kirchlichen Materialdiensten studiere, habe ich den Eindruck, daß man sich dessen fast schämt oder zumindest nicht mehr so recht weiß, was mit diesem Fest anzufangen ist. Das ist falsch. Auf die zündenden Ideen und die Errungenschaften dieser Glaubensrevolution dürfen wir stolz sein, und wir dürfen sie mit Freuden weitertragen, auch wenn wir uns dessen bewußt sind, daß sie in die moderne Zeit zu übersetzen sind und es nicht mehr darum gehen kann, sich einseitig abzugrenzen. Wir wollen nicht das Trennende betonen, um die weltweite Gemeinschaft der Christusgläubigen munter zu spalten. Wir wollen vielmehr das Ursprüngliche, den Grund des Christseins hervorheben, um zu verbinden und zu vereinen. Dabei ist ganz klar, daß es von Anfang an Verschiedenheiten gegeben hat, die man aber als Bereicherung und nicht als Bedrohung auffassen darf. Das Christentum ist wie ein sorgsam zusammengestellter Blumenstrauß, der mit seinen vielfältigen Farben und Düften frohmachen und stärken will. Ebenso unbestritten sollte sein, daß es auf dem Boden des Christentums (wie auch anderswo) schon früh sektiererische Abspaltungen gegeben hat, an denen Jesus sich nicht gefreut hätte. Da sind klare Worte und Haltungen vonnöten. Unter anderem aus diesem Grund legte Athanasius (der mehrfach verbannte und in die Wüste geschickte Metropolit von Alexandrien) im Jahre 367 das Neue Testament in seinem heutigen Umfang von 27 Schriften fest. Und dieser in seinem 39. Osterfestbrief geäußerte Vorschlag wurde durch die Kirchen anerkannt, und so war dem längeren Hin und Her um die Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften ein Ende gesetzt. Übrigens kommt das Wort Kanon von Rohr, d.h. Gerade, Richtschnur. Das Neue Testament, so wie es festgelegt ist, soll also die Gerade, die Richtschnur, die Leitlinie, die Orientierung unseres Glaubens sein. Auch ist es keine Frage, daß das Evangelium in gewissen Zeiten der Kirche deutlicher zutage trat und in anderen Zeit stark verdunkelt war. Wo es durch Traditionen und Erlasse überschüttet wurde, konnte es nicht mehr frohmachen, sondern nur noch bedrücken. Darum lautete der Wahlspruch der Genfer Reformation: "Post tenebras lux" - "Nach der Dunkelheit das Licht" - Worte, die heute noch am Genfer Wappen angebracht sind und still zu uns reden. Sie wollen uns sagen: Laßt das helle Licht des einfachen, wahren Evangeliums Jesu Christi wieder in Eure Herzen eindringen! Nehmt den Schleier und die Wolken weg, die es verdunkeln! - Und kräftig riefen die Reformatoren die vier Grundsätze in die Lande hinaus, an die man sich zu halten habe: 

- sola scriptura - allein die Schrift; - sola gratia - nur durch die Gnade; - sola fide - allein durch den Glauben; - solus Christus - nur Christus. 

Das sind die vier Grundsätze der immerwährenden Reform der Kirche und ihrer Gemeinden: Die Schrift, die Gnade, der Glaube und Christus. Das Seelenheil kann nicht durch Ablasse erkauft werden; es kann und muss nicht erarbeitet werden; und es braucht dazu nicht die verschiedensten Vermittler und Instanzen - nur Dich und Deine Offenheit zu Gott hin, geborgen in der christlichen Gemeinde und in der Gemeinschaft der Kirche. 

1) Sola scriptura - allein die Schrift, möchte betonen, daß die Tradition und die im Laufe der Jahrhunderte entstandenen Lehrmeinungen nicht über den Heiligen Schriften der Bibel stehen dürfen. Im Gegenteil: diese haben sich aus der Schrift abzuleiten. Auf dem Reichtag zu Worms - als Martin Luther den berühmt gewordenen Satz ausrief: "Hier steh ich und kann nicht anders!" - argumentierte er ganz auf dem Boden der Heiligen Schrift und ließ nur Dinge gelten, welche aus ihr begründet werden konnten. Da er nur die Organisation und die Praktiken der herrschenden Kirche kritisierte, nicht aber den Christusglauben an sich, fühlte er sich im Recht und verwunderte sich über die Art und Weise, wie mit ihm umgesprungen wurde. Wir wollen aber nicht in der Vergangenheit verweilen, sondern aus ihr lernen. Es muss unser ernstes und erstes Anliegen sein, die Bibel hochzuhalten und ihre Botschaft durch nichts trüben und verfinstern zu lassen. An den Aussagen der Bibel haben wir uns zu orientieren. Wir dürfen das Jesuanische - die Sache Jesu, seine Person, das, was er wollte und getan hat - entdecken. Nichts Eingefleischtes, keine Gewohnheit und auch nicht das bürgerliche Leben sollen darüber oder dazwischen stehen. Manchmal stehe ich auch bei uns Pfarrern und der offiziellen Kirche unter dem Eindruck, daß einzelne Bibelteile in die liebgewordenen Formen des Alltags hineingenommen werden, statt umgekehrt das Leben des Alltags durch die frohmachende und verändernde Botschaft Christi befruchtet wird. - Wie nehmen wir Jesus auf, wenn er kommt? Lassen wir ihn in unser Leben hinein? Oder ist er da ein Störefried, eine erfolglose Randfigur, mit der wir uns nicht abgeben? Orientieren wir uns wirklich an Jesus, wie wir ihn aus dem Neuen Testament kennen? Oder haben wir ihn vereinnahmt, verbürgerlicht, ihn UNS zu eigen gemacht statt uns IHM? Dienen wir Jesus, oder ist er uns ganz dienlich und nützlich für das, was wir im Sinne haben und im Schilde führen?... Das sind Anfragen, welche die Reformation heute noch an uns stellt und immer an die jeweilige Kirche stellen wird. 

2) Sola gratia - nur durch die Gnade, will uns zusagen, daß wir gerettet sind. Einfach so. Weil Gott es will. Aus Gnade, geschenkt. Manchmal hört man bei Evangelisationen zuerst die Beschwörung des Bösen und des Schlechten und nachher als Zweites das Anpreisen des Christus. Wie an den Verkaufsständen auf Messen, wo geschickte Vertreter zuerst die Not schildern, die man im Haushalt hat, und dann das rettende Mittelchen oder Gerät anbieten. So einfach. Für die Verkündigung des Evangeliums aber nicht tauglich. Meine Lieben! Wir sind durch Gottes Gnade gerettet; das ist sein Geschenk an uns, sein Weihnachtsgeschenk, das in Bethlehem klein und doch so groß in der Krippe lag. Wir wollen uns ein Beispiel nehmen an der Bibel und besonders am Verkündigungsmuster des Apostels Paulus, der das immer sorgfältig so macht: Zuerst das Evangelium, die froh- und freimachende Botschaft unseres Herrn und Bruders, und dann die Folgen, die daraus zu ziehen sind. 

3) Sola fide - allein durch den Glauben, weist auf den Satz hin: "Dein Glaube hat dich gerettet." (Lk.7,50) Die Predigt wirkt den Glauben. Und der Glaube an Jesus rettet und bewahrt uns vor Abgründen und Unheil. Der Glaube - nicht Opfer, nicht das Beruhigen des schlechten Gewissens. Und ganz nahe beim Glauben sind Hoffnung und Liebe angesiedelt, eine Dreiheit, die der Apostel mehrfach nennt. Das ist Mangelware (wenn ich das so sagen darf) in der heutigen Zeit. Viele Menschen jeden Alters sehen keinen Sinn mehr im Leben, tragen keine Hoffnung mehr in sich, sind nicht mehr beseelt von Liebe. Es fehlt das lohnende Ziel, der lohnende Sinn des Lebens. Manche davon haben alles, sie sind äußerlich gesehen wunschlos, aber nicht wunschlos glücklich, sondern wunschlos unglücklich. Langeweile und Wunschlosigkeit sind auf die Dauer gesehen Feinde des Lebens. Man sollte eigentlich immer noch ein paar Wünsche offen haben. Darum ist es wichtig, früh die Erfahrung zu machen, daß einem nicht sofort alle Wünsche erfüllt werden. Das Leben will immer noch etwas bereithalten für später. Gott hält immer wieder Überraschungen für uns bereit. Für unmöglich Gehaltenes wird mit einemmal möglich. Verloren Geglaubtes kommt zurück. Türen, die man gerne offen gesehen hätte, verschließen sich, dafür öffnen sich plötzlich wieder an einem Ort Türen, wo man es nie erwartet hätte. Glauben heisst immer auch offen, erwartungsvoll sein, und zwar gegen Gott hin. Man muss Verständnis haben dafür, wenn solcher Glaube bisweilen abhanden kommt und Durststrecken durchwandert werden müssen. Darum ist es so wichtig, Menschen nicht allein zu lassen und die Geschichten von Jesus bekannt zu machen, aufzuzeigen, wie es da oft sehr hoffnungslos ausgesehen hat und wie Gott ganz überraschend Schicksale zum Guten hin wenden kann. Wir wollen die Augen vor all dem Schlimmen in der Welt nicht verschließen, aber wir wollen beim Trübsalblasen nicht noch mitmachen, sondern aus der Kraft Gottes heraus etwas tun, etwas an die Hand nehmen, uns Zeit nehmen für einen Menschen oder für uns selbst, um unser Leben in Ordnung zu bringen. - Ein altes Wort sagt: "Statt über die Finsternis zu klagen, nützt es mehr, ein Licht anzuzünden."

4) Solus Christus - nur Christus, erinnert an das Wort der Schrift: "Es ist in keinem andern das Heil; denn es ist auch kein andrer Name unter dem Himmel für die Menschen gegeben, durch den wir gerettet werden sollen." (Apg.4,12) Wir brauchen Vorbilder, aber man soll sie nicht mit dem Original verwechseln. Es gibt zum Glück Vorbilder, aber sie decken nie das Ganze ab. Wie unverkrampft hat es doch eine unbekannte ältere Äbtissin in einem Gebet formuliert: "Ich habe nicht den Ehrgeiz, eine Heilige zu werden (mit manchen von ihnen ist so schwer auszukommen!) ..." - und dann bittet sie Gott demütig doch um ein paar gute Tugenden. Die direkte Jesus-Nachfolge ist immer noch das Beste. Und genau das wollten die Reformatoren eigentlich: dass wir sein Bild verinnerlichen und IHM, nur IHM nachfolgen. Amen.



Im Reizklima des Rechthabenmüssens und der Rechtfertigung
Einige Gedanken zum Reformationstag am 31. Oktober 2019

Adrian M. Berger, Evang.-ref. Pfarrer in Wallisellen ZH


Im 2012 erschienen Büchlein "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" diagnostiziert der Schriftsteller Martin Walser einen Mangel an Rechtfertigung: "Gerechtfertigt zu sein, das war einmal das Wichtigste." Nämlich zu der Zeit, da sich die Kirche in Europa in einem fundamentalen Aufbruch befand, da die Kirche erneut das Zentrum der Botschaft des Evangeliums zu Gehör brachte: den rechtfertigenden und rettenden Gott in Bezug auf den schuldigen und verlorenen Menschen. Und diese Beziehung des rechtfertigenden und rettenden Gottes auf den schuldigen und verlorenen Menschen ist nicht nur das Zentrum reformatorischer Theologie, sondern auch das Generalthema der biblischen Texte. Es geht also um die Frage: Was ist Gott für den Menschen? Und was ist der Mensch vor dem Gott, der ihn rechtfertigt? Es geht um die Möglichkeit der Versöhnung der Menschenwelt mit Gott. Es geht um das Handeln Gottes am Menschen. Es geht um meine Person, um mich selbst, das Personsein des Ich: Wer oder was macht mich zu der unverwechselbaren Person, deren Würde gemäss Grundgesetz unantastbar ist? Ich mich selber mithilfe anderer? Oder Gott? Von diesem Zentrum "kann man nichts weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will", sagt Martin Luther, "denn wo dieses eine Stück rein auf dem Plan bleibt, da bleibt die Christenheit auch rein und fein".

Die damalige Hochschätzung der sogenannten Rechtfertigungslehre ist heute in der evangelischen Kirche weitgehend verblasst - gar nicht zu ihrem Vorteil. Die Sache bleibt dennoch höchst virulent. Wir alle kennen den Sachverhalt in den alltäglichen Lebensvorgängen gut: etwas rechtfertigen, sich rechtfertigen müssen, gerechtfertigt werden. Warum hast du das getan? Was hast du dabei gedacht? Eine Tat, die nicht plausibel oder regelwidrig ist, ein Fehlverhalten: etwas rechtfertigen. Wer sogar sein eigenes Dasein, wer sich selbst rechtfertigt, der antwortet auf die Frage: Mit welchem Recht gibt es dich überhaupt? Mit welchem Recht bist du am Leben? und er behauptet, dass sein Leben einen Sinn hat und darum eine Berechtigung. Man weist etwas vor, was in den eigenen Augen und im Urteil anderer Gefallen und Anerkennung findet, stellt etwas dar, worin die Existenzberechtigung unter Beweis gestellt wird. Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit des leeren Gesichts forciert geradezu unheimlich den Drang ins Rampenlicht der Selbstbehauptung. Ich rechtfertige mich vor anderen Menschen (ein Kind vor den Eltern, die Eltern vor dem Lehrer, der Freund vor der Freundin, der Mitarbeiter vor dem Kollegen oder Chef, der Politiker vor den Wählern, der Verdächtige vor dem Beamten etc.), vor einer bestimmten Instanz (Jury, Gericht, Internetforen) wie auch vor mir selbst. Man stellt andere zur Beurteilung ins grelle Licht der Anklage: Beweise, dass du eine Daseinsberechtigung hast. Man fungiert als Ankläger und Richter zugleich, steht also sozusagen vor einem Dauertribunal: als Beschuldigter, Ankläger oder Richter zugleich. Wer sich rechtfertigt, steht unter dem Zwang, sich rechtfertigen zu müssen.

Walser bekennt: „Ich habe mein Leben als Schriftsteller im Reizklima des Rechthabenmüssens verbracht und habe erlebt, dass die ablenkungsstärkste Art des Rechthabens die moralische ist.“ Daumen rauf oder runter: Fortwährend urteilen wir über andere oder uns selber, bewerten Leistungen anderer oder unsere eigenen, wir ziehen jemanden zur Verantwortung und stehen selber in der Verantwortung. Die Suche nach Anerkennung ist wohl einer der stärksten Antreiber. Der Wille zur Selbstrechtfertigung ist die Folge des tief verankerten Grundbedürfnisses des Menschen nach dem Anerkanntwerden vor einer Instanz.

Josef K. wird in Kafkas Roman "Der Prozess" vom Gericht aufgetragen, eine Eingabe zu machen, in der er alle wesentlichen Momente seines Lebens aufzählen, bewerten und rechtfertigen solle; je mehr er zu seiner Rechtfertigung tun will, desto defizitärer und ungerechtfertigter kommt er sich vor, bis er sich schliesslich seine Lebenserlaubnis abspricht. Der ständige Zwang, so Walser, den Eindruck erwecken zu müssen, man sei – durch Arbeit, Leistung, Erfolg, Reichtum etc. - der bessere Mensch, bewirke einen immer grösseren Mangel an Rechtfertigung, weil auf diese Weise das Bedürfnis danach, gerechtfertigt zu werden, nicht nur nicht befriedigt, sondern verstärkt werde. Ein Teufelskreis, in der Tat.

Vor fünfhundert Jahren fragte man nicht: Wie glänze ich als Kandidatin von 'Germany's Next Topmodel' vor der Jury, wie kriege ich möglichst viele Follower der Internetnutzer, wie gewinne ich auf dem Arbeitsmarkt an Profil, was muss ich tun oder anziehen, um zu einer bestimmten Peergroup zu gehören, um als schön zu gelten, um erfolgreich zu sein? Die sogenannte Säkularisierung hat die Frage: Wie stehe ich vor Gott und wie steht Gott zu mir? nicht etwa eliminiert, sondern bloss die Instanz, vor der ich mich zu rechtfertigen habe, ausgetauscht: Wie stehe ich vor der Jury und wie steht die Jury zu mir?
Zur Verantwortung gezogen wird einer dann, wenn er etwas schuldig geblieben ist, wenn er also beschuldigt wird. Ist der Beschuldigte im Recht, dann wird er vom Richter für gerecht erklärt, also gerechtfertigt und freigesprochen; ist er aber schuldig, so wird er verurteilt. Kann man denjenigen, der im Unrecht ist, rechtfertigen? Kann man den nach dem Recht Schuldigen freisprechen?

Nun sagt die frohe Botschaft der Rechtfertigung, dass Gott genau dies getan hat. Der zu Recht Beschuldigte, der Mensch, der vor Gott im Unrecht ist, weil er Gott nicht etwas, sondern nichts weniger als sich selbst schuldig bleibt und deshalb im eigentlichen Sinn ein Gottloser, ein Sünder ist, der für sich selber etwas sein will und sich so dem Zusammensein mit Gott entzieht, wird von Gott gerechtfertigt, findet Anerkennung vor Gott, wird unwiderruflich anerkannt und bekommt das Recht auf Leben.

Wo ist der Grund dafür? Kein anderer ist gelegt als Jesus Christus. Die Rechtfertigung des Gottlosen durch den, „welcher um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt wurde“ (Röm 4,25). Der menschgewordene Gott steht gut dafür, dass an den Gottlosen, die Gott nicht walten lassen, sondern ihm den Rücken zurückehren, ihn ignorieren, verleugnen, eben nun nicht das rechtmässige Urteil vollzogen wird, sondern dass Gott selber für sie eintritt und das gerechte Urteil an sich austrägt. Am Kreuz Jesu opfert Gott nicht den Menschen Jesus, also kein Menschenopfer, sondern mit dem von ganz normalen Menschen getöteten Menschen Jesus identifiziert sich Gott so, dass man sagen muss: Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen. Mit dem Gekreuzigten hat sich Gott selbst so identifiziert, dass man sagen muss: in diesem Menschen ist Gott zur Welt gekommen und in dessen Tod hat sich Gott dem Tod ausgesetzt. Gott handelt in Jesus Christus, insofern er in ihm die Menschenwelt mit sich versöhnt. Der schuldige und verlorene Mensch gibt Gott gar nichts, Gott dagegen dem Menschen alles. Wer dazu Ja sagt, bejaht und annimmt, was Gott an ihm tut, der glaubt. Glauben heisst: eine von Gott unwiderruflich anerkannte Person sein.

Wir können (sollen und müssen!) demnach unsere eigene Anerkennung nicht selber ins Werk setzen und bewirken. Zur Freiheit befreit heisst: Frei vom Zwang zur Selbstrechtfertigung, Selbstbehauptung, Rechthaberei. Es gilt, gut reformatorisch 'Person' und 'Werke', die eine Person bewirkt, genau zu unterscheiden. Wir sind als Person nicht das, was wir machen und tun. Wir sind mehr als das. Wir sind nicht das, was wir aus uns machen. Wir sind schon längst in Mache. Was ich tue, wie ich handle, macht die Person nicht zu der Person, die ich bin. In einer Zeit der allobwaltenden Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung, deren teils grotesken, teils sehr schlimmen Folgen längst offen zu Tage liegen, kann der unbedingte Vorrang der Person vor ihren Werken nicht genug betont werden, weil er heilvoll ist. Weder die beste Tat, noch die böse Untat macht eine Person zur Person. Nicht was ein Mensch aus sich macht, auch nicht sein 'Lebenswerk' entscheidet über ihn, sondern dass Gott aus armen Sündern, aus gleichgültigen Gottlosen und selbstgerechten Frommen Gerechtfertigte macht, entscheidet über unser Leben. Fides facit personam, sagt Martin Luther, das Vertrauen auf das Handeln Gottes an uns macht, dass wir eine unwiderruflich anerkannte, eine einzigartige und unverwechselbare Person sind - als Person unter Mitpersonen.

Wer nur den lieben Gott lässt walten, an sich wirken lässt, wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat nicht nur auf keinen Sand gebaut, sondern der braucht sich die unantastbare Würde seiner Person einfach bloss vom rechtmachenden Gott schenken zu lassen. Sola gratia, allein aus Gnade, ohne unser Zutun. Solus Christus, allein durch unseren Heiland und Herrn Jesus Christus. Sola fide, allein aus dem Glauben, der die Person zur Person, der also mich macht, mir mein Gesicht gibt.

Oder wie Martin Luther in seiner kernigen, unnachahmlichen Art gesagt hat: "Denn Gott hat unser Herz und Gemüt fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solchs mit Ernst glaubt, der kann’s nicht lassen: er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, so dass es andere auch hören und herzukommen."


last update: 01.11.2019