Predigt zum
Ewigkeitssonntag, den 20. November 2005,
gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in der Kirche von
Matthäus-Zürich
ZUKÜNFTIGE STADT
Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern wir suchen die zukünftige.
Hebräerbrief 13,14
Der Hebräerbrief zeigt uns das Volk Gottes ganz
ausgeprägt in seiner Eigenschaft als wanderndes Volk. Mit ihm ist
der Einzelne unterwegs zwischen den Welten und Zeiten, unterwegs in der
Zeit auf die Ewigkeit zu. Als Reisender von Gott her, mit seinem Gott
und auf Gott hin erfährt der Mensch den Sinn des Lebens. Dabei
stellt die Glaubenskraft die Wegzehrung dar auf der Wanderung und in
den Wandlungen seines Lebens. Bei allem, was sich verändert und
wandelt, bleibt Gott der Eine und der Selbe, an den er sich hält
in den Kämpfen und Stürmen seines Lebenslaufes.
Wir dürfen hier inne halten und uns fragen, ob es uns auch
möglich ist, bei allem Wechsel der Zeiten Halt zu finden bei Gott,
Kraft aus dem Glauben zu schöpfen, Lebenssinn zu erfahren,
Wegleitung zu spüren und neue Zuversicht zu erhalten. Wir
dürfen uns fragen, ob wir uns auf der Wanderung durch die Zeit
eine Rast gönnen, in uns hinein horchen, die Verbindung mit dem
Urquell des Lebens suchen und als erneuerte Menschen des Weges ziehen
können. Mag ich mir und anderen einen Neuanfang gönnen? Gebe
ich Gott in meinem Leben eine Chance?
Diese Einstellung der Veränderung und der Wandlung, des
Unterwegsseins, findet sich schon bei Jesus: "Die Füchse haben
Gruben und die Vögel Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, wo
er sein Haupt hinlegen kann." (Matthäus 8,20)
Im Hebräerbrief erreicht diese Lebenssicht im letzten Kapitel ihre
Zusammenfassung in unserem Predigtsatz: "Wir haben hier keine bleibende
Stadt, sondern wir suchen die zukünftige."
Ja, wir haben hier keine bleibende Stadt. Aber wir erfahren hier auf
Erden in diesem Leben eben doch, was Stadt überhaupt bedeutet und
was Stadt uns sein kann. Stadt birgt und schützt, bietet Wohnung
und Geborgenheit, Möglichkeiten zur Entfaltung, Gelegenheit zu
Kontakten und Beziehungen, um die menschliche Nähe und Wärme
zu spüren, um sich selbst und seinen Platz in der Gemeinschaft zu
finden, um sich angenommen und geliebt zu fühlen. Das ist die
wichtige Erfahrung der Stadt und der Wohnung auf Erden.
Nur meint man hie und da, das bleibe so für immer, und man
gebärdet sich dementsprechend. Man möchte sich einrichten,
als ob es für ewig wäre. Man reißt an sich und macht
sich zu eigen, was greifbar ist. Man steht still und wird hart mit sich
selbst und mit anderen. Man stellt nichts mehr in Frage und gibt sich
und den Menschen ringsumher keine Gelegenheit mehr zum Neuanfang. Und
so entflieht einem gerade das, was man einfangen wollte: das Leben!
Die Bibel aber weiß, dass das Leben so nicht mit sich umspringen
lässt. Sie weiß, dass das Leben im Grunde der Dinge Bewegung
ist. Alles fließt. Das Leben flieht, wenn wir es ergreifen und
einsperren wollen, wenn wir ihm habhaft zu werden versuchen. Es kommt
aber auf uns zu, wenn wir offen bleiben, bereit sind zur
Versöhnung mit Gott, mit uns selbst und mit Menschen, bereit zur
Versöhnung auch mit dem Schicksal, mit dem Unabänderlichen.
Diese Versöhnung schenkt unseren Herzen Frieden. Und der Frieden
ist das höchste Gut.
Solche Oasen, solche Gnade braucht unsere Seele. Darum steht im
gleichen Kapitel wie unser Predigtvers auch der wohlgemeinte Aufruf:
"Der Gastfreundschaft vergesset nicht! Denn durch diese haben etliche
ohne ihr Wissen Engel beherbergt. Gedenket der Gefangenen als
Mitgefangene, derer, die Ungemach leiden, als solche, die auch selbst
im Leibe sind!" Wer Frieden findet durch Gott und seinen Sohn Jesus
Christus, wer Versöhnung annimmt, der kann anderen auch etwas
davon anbieten, was er von Gott geschenkt erhalten hat.
In einer anderen Religion heißt es: "Es sind nicht Leben,
Reichtum und Macht, was die Menschen versklavt, sondern das sich
Klammern an Leben, Reichtum und Macht.“ Buddha hat das einst gesagt,
und ich zitiere ihn an dieser Stelle bewusst, weil er darin Jesus ganz
nahe ist. Vor solcher Verhärtung will uns der Geist Christi
bewahren. Er will uns frei machen. „Für die Freiheit hat uns
Christus frei gemacht." (Galaterbrief 5,1) Für die Freiheit, uns
selbst zu sein an dem Ort, wo wir hingestellt wurden in diesem Leben.
Für die Freiheit, anderen zu dienen, wo wir können. Im Urtext
des Neuen Testamentes steht dieses Wort Freiheit in der griechischen
Sprache, und da heißt es "eleutheria", da steckt das Wort Leute
drin. Nicht der Einsame ist frei, nicht jener, der sich am wildesten
gebärdet, sondern derjenige, der seinen Platz wahrnimmt, der ihm
von Gott im Ganzen zugewiesen wurde.
Solche Freiheit entspringt dem Glauben, der vertraut. Wir haben die
Freiheit, diese Stadt auf Erden aufzubauen, uns in ihr zu entfalten und
anderen dasselbe zu ermöglichen und zu gönnen. Hinter einer
solchen Stadt spüren wir die zukünftige, die himmlische
kommen, in der ein anderes, ein nicht geschaffenes,
unvergängliches Licht leuchtet. Die letzten Seiten der Bibel, das
Ende des Buches der Offenbarung des Sehers Johannes (21,2ff.),
berichtet davon: "Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von
Gott her aus dem Himmel herab kommen. Und ich hörte eine laute
Stimme vom Throne her sagen: Siehe da, die Hütte Gottes bei den
Menschen. Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein,
und Gott selbst wird bei ihnen sein. Und er wird alle Tränen
abwischen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, und kein
Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist
vergangen. Und der auf dem Throne saß, sprach: Siehe, ich mache
alles neu."
Wer tief in sich hinein hört und fühlt, der merkt dieses
Wissen, diese Ahnung, und er hat eine Sehnsucht danach. Im Glauben
verzehrt uns solche Sehnsucht aber nicht, sie frisst uns nicht auf,
sondern sie wandelt sich in Kraft. Und so bauen wir bereits an jener
anderen, unsichtbaren, nicht mit Händen gemachten Stadt. Sie ist
unvergänglich und unverlierbar, menschlich, weil sie vom
göttlichen Geist durchdrungen ist.
Wir sind Wanderer von einer Welt zur anderen. Wir spüren, dass wir
auf Hilfe und Licht für unsere Schritte angewiesen sind. Und wir
brauchen Gasthäuser auf diesem Weg, wo wir als Pilger und
Gäste des Lebens einkehren können.
Unsere Kirche mit ihren Feiern und Tischgelegenheiten darf ein solches
Haus sein, eine Rast- und Gaststätte für unser Wohl an Seele,
Geist und Körper. Da dürfen wir uns selber sein, ausruhen und
die Kräfte einsetzen, Gemeinschaft annehmen und Gemeinschaft
fördern, Wegweisung erfahren und anderen Wegweisung bieten. Wir
haben nichts zu verlieren, denn alles, was wir hier haben, ist
zeitlich. Wir haben aber sehr wohl viel zu gewinnen, nämlich die
Schönheit der zukünftigen Stadt, die bleibend, ewig sein
wird.
Diese Stadt, die zukünftige, verbindet uns für immer mit
jenen, die vorausgegangen sind, und sie wird uns auch verbinden mit
jenen, die nach uns kommen werden. Sie verbindet aber auch uns, die wir
miteinander hier sind. Sie verbindet uns durch den Geist Jesu Christi,
den Geist dessen, der war, der ist und der kommt, der gestern und heute
derselbe ist und in Ewigkeit (Hebräerbrief 13,8).
last update: 25.08.2015
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