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Die Tage zählen
Sonntag, 7. August 2016 in Dietlikon ZH, PZ Rotacher
von Pfarrer Jakob Vetsch


Predigttext (Psalm 90,12)
"Unsere Tage zu zählen, lehre uns,
damit wir ein weises Herz gewinnen."

Die Tage zählen: Eigentlich beginnt die ganze Bibel genau damit! Ein Tag, ein zweiter Tag, ein dritter Tag ... und so weiter; die ersten sieben Tage der Schöpfung. Womöglich hat das Zählen wirklich mit den Tagen begonnen, dem Aufgang und dem Niedergang der Sonne, wie es ja Robinson auf der Insel auch gemacht hatte.

Und nun ruft uns die Bibel zu: Mensch, mache es auch so, zähle die Tage in deinem Leben! Jeder Tag ist ja so wertvoll, er besteht aus Helle und Dunkelheit, spannend übrigens dass wir die Nacht im Grunde der Dinge auch zum Tag mit seinen 24 Stunden zählen, obschon wir den Tag auch als Gegensatz zur Nacht begreifen. Aber er besteht eben nicht nur aus Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend; er gilt auch als ein Zeitmass. Die Sonne und der Mond gehören beide zum ganzen Tag.
Jemand hat seine Stunden dreigeteilt in 8h Arbeit, 8h Privat, 8h Schlaf. Wenn wir es so einrichten, dass uns die Stunden entgegen kommen, und wir uns freuen auf sie, dann sind das plötzlich ganz viele, und die einzelnen beginnen sich in Abschnitten schier unendlich zu füllen. Fast ein bisschen Ewigkeit schleicht sich ins Alltagsleben hinein, und das ist etwas anderes als Langeweile. Aber das ist natürlich nur so, wenn es uns gelingt und gegeben ist, dass die Stunden uns entgegen kommen und nicht davon eilen, wie das ja so oft der Fall ist und wir als gehetzte Menschen durch's Leben jeten, was ja immer auch ein bisschen seine Berechtigung hat, denn zum Leben gehört nicht nur das Verweilen sondern auch die Bewegung.

Das hebräische Wort für Tag heisst im Alten Testament Jom י֥וֹם.
Nahe daran hajom הַיּ֗וֹם für heute und kajom כַיּוֹם֙ für jetzt.
"Wir Juden leben im Tag", wurde einmal mit Hinweis auf die Bibelstelle
vom Psalm 90,12 gesagt. Damit war nicht gemeint, in den Tag hinein zu leben,
mit der Hand in den Mund zu leben, wohl aber den Tag zu zählen,
ihm Wert beizumessen und ihn zu leben.
Er ist uns gegeben; er ist ein Geschenk von Gott für uns Menschen.

Das ist kein Plädoyer für eine Perspektivlosigkeit, im Gegenteil: Wir Christen haben immer noch ein Ziel, bis zuletzt. "Schlägt dir die Hoffnung fehl, nie fehle dir das Hoffen! Ein Tor ist zugetan, doch tausend sind noch offen." (Friedrich Rückert, 1788-1866) – Aber wir sind aufgerufen, den Tag, die Zeit, das Jetzt voll auszukosten und ein bisschen Unendlichkeit in die Endlichkeit einströmen zu lassen.

Dabei dürfen wir uns davon erfüllen lassen, dass der Tag durch das Kommen und durch die Wiederkunft von Jesus Christus nochmals eine ganz neue Dimension – und somit unser Leben eine neue Qualität erhält! Im Neuen Testament spricht der Apostel Paulus vom "Tag des Herrn Jesus Christus" (1. Korinther 1,8) oder vom "Tag Christi" (Philipper 2,16), und der Evangelist Johannes (8,56) hörte Jesus "mein Tag" sagen.
Daher proklamierte die frühe Kirche den Sonntag, den ersten Tag der Woche, als den "Tag des Herrn". Den Sonntagsfeiern wohnt immer auch die Erinnerung an den Auferstehungstag Christi inne. Das betreffende Wort lebt in allen romanischen Sprachen für "Sonntag" fort, sei es italienisch "Domenica", spanisch "Domingo" oder französisch "Dimanche"; sie kommen von lateinisch "dies dominicus", eben "Tag des Herrn".

Es gilt im guten, geistlichen Sinn "carpe diem" (Pflücke den Tag!), oder "Wirket, solange es Tag!", was den Jesusworten entnommen ist: "Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann." (Joh. 9,4)

Zur Gestaltung des Tages äusserte sich Johannes XXIII. (1881-1963) einst so:

"Nur für heute werde ich mich bemühen, den Tag zu erleben, ohne das Problem meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.

Nur für heute werde ich die grösste Sorge für mein Auftreten pflegen:
Ich werde niemanden kritisieren, ja ich werde nicht danach streben die anderen zu korrigieren oder zu verbessern... nur mich selbst.

Nur für heute werde ich in der Gewissheit glücklich sein, dass ich für das Glück geschaffen bin... nicht nur für andere, sondern auch für diese Welt.

Nur für heute werde ich mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass sich die Umstände an mich und meine Wünsche anpassen.

Nur für heute werde ich eine gute Tat vollbringen, und ich werde es niemandem erzählen.

Nur für heute werde ich etwas tun, wozu ich keine Lust habe; sollte ich mich in meinen Gedanken beleidigt fühlen, werde ich dafür sorgen, dass niemand es merkt.

Nur für heute werde ich ein genaues Programm aufstellen. Vielleicht halte ich mich nicht daran, aber ich werde es aufsetzen. Und ich werde mich vor zwei Übeln hüten: vor der Hetze und vor der Unentschlossen-heit.

Nur für heute werde ich fest glauben - selbst wenn die Umstände das Gegenteil zeigen sollten - , dass die gütige Vorsehung Gottes sich um mich kümmert, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt.

Nur für heute werde ich keine Angst haben. Ganz besonders werde ich keine Angst haben, mich an allem zu freuen, was schön ist, und an die Güte zu glauben."



GOTTESDIENSTABLAUF

Eingangsspiel

Grusswort: Im Namen Gottes, der da ist Vater, Sohn und Heiliger Geist, Amen!
"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen
und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand
– und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (Matthäus 22,37)

Lied 557,1-4 ("All Morgen ist ganz frisch und neu")

Gebet zur Sammlung (Aus Westafrika):
Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel.
Die Nacht ist verflattert, und ich freue mich am Licht.
Deine Sonne hat den Tau weggebrannt vom Gras
und von unseren Herzen.
Was aus uns kommt und was in uns ist
an diesem Morgen - alles ist Dank.
Herr, ich bin fröhlich heute Morgen.
Die Vögel und die Engel jubilieren, und ich singe auch.
Das All und unsere Herzen sind offen für deine Gnade.
Ich fühle meinen Körper und danke.
Die Sonne brennt meine Haut, und ich danke.
Das Meer rollt gegen den Strand, ich danke.
Die Gischt klatscht gegen unser Haus, ich danke.
Herr, ich freue mich an der Schöpfung und dass DU dahinter bist
und daneben und davor und darüber – und in uns.
Ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel.
Ein neuer Tag, der glitzert und knistert, knallt und jubiliert
von deiner Liebe.
Jeden Tag machst Du – gepriesen seist Du, Herr. Amen! 

Lesung (Psalm 139,13.14.16):
"Du, Herr, bist es, der mich im Leib meiner Mutter gewoben hat.
Ich preise dich, dass ich so herrlich, so wunderbar geschaffen bin;
wunderbar sind deine Werke, meine Seele weiss dies wohl.
Noch bevor ich geboren war, sahen mich deine Augen,
in deinem Buch war alles verzeichnet,
die Tage waren schon geformt, als noch keiner von ihnen da war."

Lied 247,1.2.9 ("Grosser Gott, wir loben dich")

Predigttext (Psalm 90,12)
"Unsere Tage zu zählen, lehre uns,
damit wir ein weises Herz gewinnen."

1. Zwischenspiel

PREDIGT: "Die Tage zählen"

2. Zwischenspiel

Fürbitten und "Unser Vater"
Guter Gott, hab Dank für Dein Wort vom Zählen der Tage,
von der Weisheit und Deiner Liebe zu uns Menschen!
Gerne lassen wir uns von ihr tragen und bekennen uns zu Dir.
Sei Du besonders auch bei all den Menschen,
die unschuldig oder schuldig leiden, die benachteiligt,
verfolgt und unterdrückt sind,
mit Deiner Gegenwart, Deiner Liebe und Deinem Trost,
der Du bist "Unser Vater im Himmel ..."

Lied 672,1-3 ("Mein schönste Zier und Kleinod bist auf Erden du")

Mitteilungen

Lied 695,1-3 ("So nimm den meine Hände")

Segen (Von Unbekannt)
Du bist Gottes Liebe; er verlässt Dich nicht.                                 
Er sorgt für Dein Leben, 
dass es nicht zerbricht.
Gott sagt: 
Du bist wertvoll für mich, 
und ich habe Dich lieb.

So gehe durch diesen Tag, 
getragen in der Liebe des Herrn. 

Sei gesegnet! – Amen.

Ausgangsspiel



Predigt DIE TAGE ZÄHLEN im PDF-Format



Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat
Predigt 14. Juli 2002 in Zürich-Matthäus,
Jakob Vetsch Pfarrer

"Dies ist der Tag,
den der Herr gemacht hat;
lasst uns frohlocken
und seiner uns freuen!"

Heute ist der Tag, den der Herr gemacht hat. Wie denn, ist Schöpfung nicht ein für alle Mal geschehen? Ereignet sich Schöpfung täglich, stündlich, immerwährend? Macht Gott alles ständig neu? Dann haben wir immer wieder Grund zur Dankbarkeit und zur Freude!

Lasst uns frohlocken und seiner uns freuen! Wenn zu so etwas aufgerufen werden muss, dann war und ist es nicht selbstverständlich. Sind wir Sorgenkrämer geworden? Zieht uns das Negative mehr an als das Positive? Muss uns der Psalmensänger zur Fröhlichkeit anhalten?

Der wunderbare Vers 24 aus dem Psalm 118 darf nun in unsere Herzen hineinreden. Der Psalm 118 erfreut sich allgemeiner Bekanntheit, und wenn ich jetzt einige weitere Sätze aus ihm herausgreife, dann wecken sie bestimmt Erinnerungen:

"Danket dem Herrn, denn er ist freundlich,
und seine Güte währet ewig!"

"Der Herr ist für mich, ich fürchte mich nicht;
was sollten mir Menschen tun?"

"Es ist besser, auf den Herrn zu vertrauen,
als sich auf Menschen zu verlassen."

"Ich werde nicht sterben, ich werde leben
und die Taten des Herrn verkünden."

"Der Stein, den die Bauleute verworfen haben,
der ist zum Eckstein geworden."

"Danket dem Herrn, denn er ist freundlich,
und seine Güte währet ewig."

Was Wunder, wenn dieser schöne und tiefe Psalm mit seinen einprägsamen Versen mannigfache Impulse für neue Lieder verlieh und zum Lieblingspsalm eines Martin Luther wurde! Der Reformator würdigte den Psalm einst mit den Worten:

"Es ist mein Psalm, den ich lieb habe, denn er hat sich auch redlich um mich gar oft verdienet, und mir aus manchen grossen Nöten geholfen, da mir sonst weder Kaiser, Könige, Weise, Kluge, Heilige hätten helfen mögen."

Der Reformator steht dazu, dass es in seinem Leben Situationen gab, in denen ihm weder die politische Führung (Kaiser, Könige) noch die wissenschaftliche Elite (Weise, Kluge) noch die religiöse Prominenz (Heilige) hätte helfen können. Der Psalm 118 hat es fertig gebracht. Er konnte Trost spenden und Hilfe vermitteln. Es gibt Lebenslagen, in denen wir allein entscheiden müssen und in denen Gott selber eingreifen muss, um alles zum Guten zu wenden. Da kann ein Psalm aus dem Alten Testament der Bibel Gold wert sein!

"Dies ist der Tag,
den der Herr gemacht hat;
lasst uns frohlocken
und seiner uns freuen!"

So sang die festlich versammelte Gemeinde im Gottesdienst. Die gemeinsame Freude am Lobpreis Gottes machte den ganzen Tag zum besonderen Tag des Herrn. Wir Heutigen kennen das Fest von damals nicht mehr. War es ursprünglich die Tempelweihe oder das Herbstfest?
Für uns Christen könnte der Psalm nicht zuletzt wegen Vers 24 ein Osterpsalm sein, denn jenen Tag hat Gott ganz speziell zu unserer Hoffnung und Lebensfreude gemacht, und jede Sonntagsfeier bedeutet ein kleines Osterfest, ein kleines Fest der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus. Das Kirchengesangbuch wendet die Worte "Dies ist der Tag, den Gott gemacht" auf den Weihnachtstag an, den Inbegriff des Neubeginns in Jesus Christus.
Wie dem auch sei, jeder Tag in Gott darf zu einem einmaligen Tag werden. Jeder Tag, an dem wir uns besinnen, in Dank, Bitte und Lob, erhält seine Qualität durch Gott. Es dreht sich nicht nur darum, dass Gott Zeit und Raum eingerichtet hat, sondern was sich darin ereignet. Es geht um die Lebensqualität, um das, was die Bibel ewiges Leben nennt.

Der Psalmdichter stellt Gott uns als Tag-Macher, als Fest-Tag-Macher vor. Gott macht den Tag, und zwar nicht nur den astronomischen Tag, sondern auch den Tag als Erlebnis, als tiefes Erlebnis der Begegnung mit sich selber, mit der Gemeinschaft der Geschwister, mit Gott und seiner Schöpfung. Der Tag darf auch in unseren Herzen anbrechen, und es darf Segen auf ihm liegen. Zeit ohne Gott ist tote Zeit, Zeit mit Gott ist lebendige Zeit. Darum gilt es Gott zu loben und den Tag zu nutzen. Wir haben eine Verantwortung, denn vertane Stunden und Tage können wir nicht zurückholen.
Dietrich Ritschl hat einmal gesagt, wir stellen uns die Zeit besser nicht als eine Gerade vor, nicht als einen dahin fliessenden Strom, sondern als Kreise wie die Blumen und die Bahnen der Gestirne. Wir bewegen uns in Kreisen, wenn wir am Morgen das Haus verlassen und wenn wir am Abend zurück kehren. Unser Erleben ist in diesen Kreisen aufgehoben. Durch den Lobpreis wird die Zeit zur Festzeit und das Leben zum ewigen Leben!


Abendstimmung am Lago Maggiore, bei Locarno
Foto: Jakob Vetsch, April 2003


last update: 29.08.2016