LEID UND REIFE
Predigten zu Texten von William
Wolfensberger
Geführte
Hände
"Jesus sagte:
Ich versichere euch, wenn ihr euch nicht ändert
und den Kindern gleich werdet,
dann könnt ihr in Gottes neue Welt
überhaupt nicht hineinkommen."
(Matthäus 18,3)
Die
Texte des jungen Pfarrers William Wolfensberger,
die vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammen, wurden und werden seit
vielen
Jahrzehnten von unzähligen Lesern verehrt. Vor wenigen Jahren
noch
hat mir ein älteres Gemeindeglied etwas aus der Feder dieses
Autors
zugesteckt. Und sie hat es so gemacht, daß mir klar wurde: Es
handelt
sich hier um ein Kleinod...
Zuerst vernehmen wir einiges aus der kurzen, bewegten Lebensgeschichte
des begnadeten Literaten.
William Wolfensberger wurde am 17. Juni 1889 im damals
noch nicht eingemeindeten
Zürich-Hottingen geboren. Mit seiner Heimatstadt, deren ganze
Atmosphäre
er leidenschaftlich liebte, fühlte er sich zeitlebens stark
verbunden.
Auch später noch schlenderte er gerne in deren Gassen und
Straßen
herum und verweilte häufig vor ihren Buch- und
Kunstläden.
Der Kaufmannssohn Wolfensberger, mit einem energischen, empfindsamen
Geist und einem eher schwächlichen Körper
ausgerüstet, studierte
vorerst Germanistik und wandte sich dann gegen den Willen seines Vaters
der Theologie zu. Da ihm deswegen das Haus verschlossen wurde - "I wott
kein Pfaff i dr Familie!" tönte es dem Sohne zornig entgegen -
, absolvierte
er sein Studium, das er mit dem Erteilen von Privatstunden finanzierte,
unter größten Entbehrungen. Am 16. November 1913
durfte er als
24-Jähriger in der Kirche von
Zürich-Oberstraß seine Ordination
zum Pfarrdienst feiern.
In die Zeit von William Wolfensbergers germanistischem Semester mit
all seinen inneren Kämpfen um den richtigen Weg fiel auch noch
die
schicksalshafte Begegnung mit einer von ihm sehr verehrten Frau. Diese
jedoch erwiderte seine leidenschaftliche Liebe nicht, und so trug er
das
Leid der unerfüllten Liebe neben dem Leid des verlorenen
Elternhauses
still mit sich.
Dieses Leid ließ den jungen Mann aber auch reifen.
Erfüllung
und Freude fand er - neben Zeiten schwerer innerer Krisen - schon
früh
im Schaffen von Gedichten und literarischen Skizzen, die er
zunächst
in Zeitungen und Zeitschriften, später in eigenen Buchwerken
veröffentlichen
konnte. Einem Freund schrieb er:
"Wenn es möglich wäre, wenn es wahr
wäre, daß ich
ein Werk schaffen könnte! Wie wollte ich dankbar sein!" Und
ein ander
Mal: "Alles sind einfältige Sachen, die nichts sein wollen als
Geschichtchen,
und doch dünkt mich alles wichtiger als mein ganzes Studium.
In Wissenschaft
kann ich nichts leisten."
Das will nicht heißen, daß er sein
Studium nicht ernst genommen
hätte, aber es war für ihn nur der Weg zum
Pfarrerberuf.
Seine erste Stelle versah der frischgebackene Prädikant denn
vom
Frühling 1914 bis Weihnachten 1916 im abgeschiedenen
Münstertal;
und zwar in den oberen Dörfern Fuldera, Tschierv und
Lü, wo er
sich merkwürdig rasch einlebte und nach einer langen
pfarrerlosen
Zeit die Predigthörer und vor allem die Kinderherzen im Nu
gewann.
In Fuldera übte er auch noch die Ämter des
Gemeindepräsidenten,
des Kassiers und Aktuars aus, und da der Lehrer zu dieser Zeit des
ersten
Weltkrieges wochenlang im Militärdienst weilte,
übernahm Wolfensberger
zeitweilig auch den Unterricht an der acht-Klassen-Schule mit 30
Wochenstunden.
Die Gemeinde dankte ihm den selbstlosen Einsatz mit dem
Ehrenbürgerrecht.
"Ist es nicht rührend?" schrieb er seinem Studienkollegen und
späteren
Biographen Robert Lejeune an den Heinzenberg.
Kirche in Lü, der
dritthöchstgelegenen politischen
Gemeinde der Schweiz
Foto: Jakob Vetsch, 1995
Das Glück war dem engagierten Seelsorger und
Prediger hingegen
nicht lange Zeit hold. Zur Tilgung einer auf der kleinen Gemeinde
schwer
lastenden Schuld setzte er sich für eine Verteilung der
unvermeidlichen
Steuerlasten ein, welche auf die Tragfähigkeit der einzelnen
Gemeindeglieder
abstellte und demgemäß den starken Schultern viel,
den schwächeren
weniger zumutete. Dieses Ansinnen, das in der heutigen Praxis eine
Selbstverständlichkeit
darstellt, stieß damals bei den tonangebenden
Männern des Dorfes
auf so heftigen Widerstand, daß sich unter ihrem Druck die
Kirche
entleerte, die wenigen Verbliebenen höchstens noch im Schutze
der
Nacht das Pfarrhaus aufsuchten und die Schulkinder, die ihm so zugetan
waren, den in Mißkredit Geratenen nicht mehr
grüßten.
Das ganze muß Wolfensberger wie ein böser Traum
vorgekommen
sein. Nach harten Monaten hielt er diese Ablehnung durch die Gemeinde
nicht
mehr aus und verließ sein geliebtes Münstertal an
Weihnachten
1916 - nachdem er noch in Tschierv mit der Gemeinde gefeiert hatte -
bei
Nacht und Schnee über den Ofenpass... Zum Verlust des
Elternhauses
und zur unerfüllten Liebschaft kam nun noch das dritte Leid
der verlorenen
Gemeinde hinzu.
In seiner zweiten Gemeinde Rheineck, wo seine Predigten
geschätzt
und seiner literarischen Tätigkeit Verständnis
entgegengebracht
wurde, hat sich William Wolfensberger ebenfalls mit letzter Hingabe
eingesetzt,
bis er nach knapp zwei Jahren Amtszeit im Grippejahr 1918 am 6.
Dezember
durch einen seiner schon früher erlittenen
Krankheitsanfälle
hinweggerafft wurde.
Wenige Tage vorher hatte er seinem Freund noch die Worte
geschrieben:
"Und doch weiß ich schon heute, daß
all dies sein mußte,
und ich spüre, daß bald ´die Zeit
erfüllt sein wird´,
wo die Gegengabe da ist... Bloß das allein hilft, zuletzt mit
sich
selber ins reine kommen zu können und den Einklang zu finden
mit der
einen Macht, die einen mit Mutterarmen zieht und die noch in der Ferne
ist, aber immer näher rückt; mit ihr Kontakt gefunden
zu haben
heißt hell werden und strahlen."
Dieses "ewige Licht", das ihm ein
Freund aus Paris mitgebracht
hatte, leuchtete dem jungen Pfarrer bis zum Schluss ... Das Licht
befindet
sich bei Dr. med. Peter
und Käthi Kamm-Walther,
Hauptstr. 28, CH-8762 Schwanden GL / Foto: Jakob Vetsch, 2001
Der 29-jährig Frühvollendete hat ein
reifes literarisches
Werk hinterlassen. Seine ergreifenden Erzählungen, die
vielfach aus
dem eigenen Erleben geschöpft sind, schildern Menschen, denen
er begegnet
ist und die ihn beeindruckt haben. Er entfaltet darin von seinem
biblischen
Wissen her Wahrheiten, die weit über seine Zeit auch in die
unsrige
hineinsprechen. Noch nach seinem Hinschied wurden seine schriftlichen
Erzeugnisse
bis in die 60-er Jahre hinein veröffentlicht und von vielen
Lesern,
die ihn gekannt oder auch nicht gekannt haben, geschätzt.
Nach diesen Angaben über das Leben verstehen
wir die Widmung beßer,
die William Wolfensberger im Büchlein "Religiöse
Miniaturen"
dem Andenken seines Vaters schrieb, den er übrigens trotz des
schmerzhaft
erfahrenen Rauswurfes aus dem Elternhaus zeitlebens verehrte:
"In deinem Leben liegt ein großer Zug
Vom freien Schaffen und Vollbringen,
Vom Kämpfen, das bevor die Stunde schlug
Den letzten Plan noch will erzwingen.
In deinem Leben liegt ein großes Leid,
Das Schnitterweh der Schaffenslust:
Daß stets du, wo dein Herz in Liebe schreit,
Die tiefsten Wunden schlagen mußt."
Der Text "Geführte Hände"
enthält eine Episode, die sich
in den Bündner Bergen abgespielt hat:
Mein Freund, der wackere Schulmeister Dominik Fluor, hat
mich in seine
Schulstube mitgenommen. Es ist ein verschlafener Winternachmittag, grau
die Berge und schwer die Luft. Es will ein Wetterlein kommen, mein ich.
Die Griffel klappern. Die Kleinen haben Schreibstunde. Es sind junge,
kleine Bauernfäustchen, die die Griffel halten.
Ängstlich und
hart halten sie das dünne Schieferstielchen. Sie schreiben mit
ernsten
Mienen, Linie um Linie wird vollgemalt, das geht nur so "auf, ab, auf,
ab, rund herum und jetzt ein schönes Schwänzlein dran
-"
Man sieht es ordentlich an diesen Gesichtern, wie ernst ihnen diese
Kunst vorkommt. Aber schwer ist sie, ganz gewaltig schwer! Wenn nur der
Griffel nicht wäre! Aber immer will der nach der verkehrten
Seite,
auch wenn man es recht gemeint hat. Da gibt es dann ein
«a»
mit einem eingedrückten Bauch, und das "s" bekommt immer einen
spitzen
Buckel auf dem Rücken. Und so hart sind die Griffel, es pfeift
nur
so, wenn man sie ein wenig recht in die Hand nimmt...
Der wackere Lehrer nimmt eines nach dem andern dran. Er setzt sich
neben jedes eine Weile hin. "Der Griffel ist schlecht, Herr Lehrer!"
sagt
der kleine Nott. "O nein", sagt mein Freund ruhig und sehr
gütig,
"deine Hand ist zu scharf und ungeschickt, Nott."
Schon sitzt er neben ihm. Sein schneeweißer Scheitel leuchtet
so rein neben dem schwarzen, krausen Kinderkopf. Und ruhig, ruhig und
ganz
sicher führt er mit seiner Hand die Kinderhand und den
Griffel, es
hat alles gut Platz darin. "Eins - zwei -" es geht ganz sacht und der
Griffel
darf nicht mehr pfeifen und leicht und sicher muß nun alles
gleiten.
Die Knabenhand bekommt ordentlich Vertrauen. ---
Ich denke an mein Leben und daß darin so manche Zeile schief
steht. Es wird mir diese Kunst so schwer. Ich denke an mein Leben und
daß
darin so viel eingedrückt ist, was rund und voll sein sollte.
Ich
weiß gar nicht, warum mein Griffel keine Bogen zustande
bringt und
alles stets so eckig wird. Es muß am Griffel liegen, denn ich
sehe
den Bogen ganz deutlich, den ich machen möchte, - und doch
nicht kann.
Ich denke an mein Leben und wie ich schwer und ungeschickt getan. Ich
denke
an die sichere Hand, die so gütig nachhilft, und an zwei
Augen, die
sorgen und sinnen, daß mir nicht gar alles mißraten
darf.
Wolfensbergers Handschrift im
posthum herausgegebenen
Faksimile "O Sonne!"
Meisterhaft lenkt der Poet den genau musternden Blick
von der Schulstube
weg auf sein eigenes Leben. In den ungeschickten
Schülerhändchen
erkennt er seine eigene bruchstückhafte
Lebensführung. Ihre kantigen
Schreibversuche lassen seinem Herzen alles hochkommen, was bei ihm
eckig,
mißraten und unvollkommen ist. Es wird deutlich: Er leidet
darunter,
daß vieles einfach nicht gelingen möchte, obschon er
den Willen
hätte und den Weg vor sich sähe...
Doch mit dem letzten Satz wird der fleißigen Beobachtung und
der ehrlich geschilderten Empfindung etwas ganz Entscheidendes
hinzugefügt:
der Glaube daran, daß da noch eine andere Hand im Spiele ist,
die
gütig nachhilft, und zwei andere gute Augen, die sorgen und
sinnen,
daß ihm nicht gar alles mißraten darf.
Vom Lehrer sagt er, ruhig und sicher führe seine Hand die
Kinderhand
und den Griffel, "es hat alles Platz darin". Welche Geborgenheit!
Welches
Vertrauen und welcher Glaube!
Es kommen mir die Worte des berühmten Psalms 23 in den Sinn:
"Der Herr ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Auf grünen Auen läßt er mich lagern,
zur Ruhstatt am Wasser führt er mich.
Er stillt mein Verlangen;
er leitet mich auf rechtem Pfade
um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
ich fürchte kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab, der tröstet mich."
"Du bist bei mir." Der Philosoph Immanuel Kant fand
einmal, dies seien
die wichtigsten und tröstlichsten vier Worte der Bibel. Ohne
dieses
Vertrauen könnten wir nicht weitergehen.
Und es kommen mir die Worte des Apostels Paulus in den Sinn, die wir
in seinem bekannten "Hohen Lied der Liebe" im 13. Kapitel des 1.
Korintherbriefes
lesen:
"Unser Erkennen ist Stückwerk,
und unser Reden aus Eingebung ist Stückwerk.
Wenn aber das Vollkommene kommen wird,
dann wird das Stückwerk abgetan werden.
Wir sehen jetzt nur wie mittels eines Spiegels
in rätselhafter Gestalt,
dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk,
dann aber werde ich völlig erkennen,
wie auch ich völlig erkannt worden bin.
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe,
diese drei; am größten aber unter diesen ist die
Liebe."
Was hier über das menschliche Erkennen gesagt
wird, gilt auch für
das Vollbringen des Menschen: Es ist in jedem Fall Stückwerk.
Wir
müßten alle verzweifeln, wenn wir meinten, wir
sollten vollkommen
sein. Wir dürfen aber von Herzen freudig leben und auch einmal
etwas
wagen, wenn wir wissen: Es darf bruchstückhaft bleiben, und
was fehlt,
fügt ein Anderer schon hinzu.
Dieses kindliche Vertrauen bringt uns dem Reich Gottes nahe. Wir sehen
das Leben mit anderen Augen an. Wir sind getroster, gelassener, weil
wir
glaubend und vertrauend auch Gott etwas überlassen. ER, der
Gott Jesu
Christi, vollendet unser Leben. Darum trauen wir uns, es
weiterzuschreiben,
auch wenn unsere unbeholfene Schrift mal gar kantig und eckig
gerät.
Johannes XXIII., der Konzilsvater, meinte einmal:
"Vollkommenes Glück und Zufriedenheit freilich
dürfen wir
in diesem Leben nicht erhoffen. Es muß immer etwas geben, das
uns
auch inmitten der Freuden daran erinnert, daß wir
für eine vollkommenere
Freude geschaffen sind, die wir nicht hier auf Erden finden werden."
Zum Schluß Gedichtsworte von William
Wolfensberger, die hier passend
gesetzt erscheinen:
"Lege meine müden Hände
Still in deine gute Hand,
Führe du es jetzt zum Ende
Was noch nicht Vollendung fand,
Stärke du mit deiner Kraft,
Meine Hände sind erschlafft.
Tränk mit deiner Lebensfülle,
Daß ein Saatfeld kann erstehn,
Mein war nur der Knechteswille,
Du gibst Wachsen und Geschehn.
Und was wir mit Not vollbracht,
Reifst du aus mit großer Macht.
Du mußt alles, alles enden,
Müd sind wir von Anbeginn,
Alles wächst aus deinen Händen
Still zu der Vollendung hin.
Zwischen Felsen, Fluh und Dorn
Golden reift dein schweres Korn."
last update: 05.03.2016
|