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LEID UND REIFE
Predigten zu Texten von William Wolfensberger


Seite neun aus dem gediegenen Bändchen
"Religiöse Miniaturen"


Der Gott am Jabbok

Noch in der Nacht stand Jakob auf, nahm seine beiden Frauen und seine beiden Mägde und seine elf Söhne und ging über die Furt des Jabbok. Er nahm sie und führte sie über den Fluß; auch all seine Habe brachte er hinüber. 
Jakob aber blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Als der sah, daß er ihn nicht zu überwältigen vermochte, schlug er ihn auf das Hüftgelenk. Und Jakobs Hüftgelenk wurde verrenkt, als er mit ihm rang. 
Und er sprach: "Laß mich los; die Morgenröte bricht an."
Jakob aber antwortete: "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn."
Er sprach zu ihm: "Wie heißt du?" 
Dieser antwortete: "Jakob." 
Da sprach er: "Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel (d.h. Gottesstreiter). Denn du hast mit Gott und mit Menschen gestritten und hast obsiegt." 
Und Jakob fragte: "Sag an, wie heißt du?" 
Er aber sprach: "Warum fragst du, wie ich heiße?" Und er segnete ihn daselbst. 
Und Jakob nannte die Stätte Pniel (d.h. Angesicht Gottes); denn - sagte er - da habe ich Gott von Angesicht zu Angesicht geschaut und bin am Leben geblieben. Und als er an Pniel vorüber war, ging die Sonne auf; er hinkte aber an der Hüfte. 
(1. Mose 32,22-31)

In den siebziger Jahren kam die Erzählform der Predigt in Mode. Man rückte in der Verkündigung von der lehrhaften Theologie ab und pflegte biblische Geschichten nachzuerzählen, auszuschmücken und möglichst aktuell zu gestalten. Diese Neuigkeit wurde "narrative Theologie", erzählende Theologie, genannt. 
In den achtziger Jahren begann der katholische Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann, aus biblischen Schilderungen und Geschichten seelische Abläufe und Wahrheiten herauszuschälen. Man sage nicht: "nur seelisch", denn die Seele des Menschen ist eine Wirklichkeit, an der wir nicht vorbeikommen. Dieser Methode der Bibelauslegung war viel Erfolg beschieden. 
Lange vor der narrativen Theologie und Drewermann hat William Wolfensberger erzählerisch verkündigt und seelische Wahrheiten im biblischen Text erkannt. Er hat die Worte der Bibel vom Leben her gesehen und ins Leben hineingenommen. Die Gemeinde fühlte sich angesprochen und war begeistert, der Predigtbesuch war sehr erfreulich - doch von vielen seiner Pfarrkollegen mußte Wolfensberger Ablehnung erfahren. An der Pfarrersynode vom Juni 1914, wo er ins Gremium der Bündner Prediger aufgenommen wurde, stieß er mit seiner eigenartigen und eindringlichen Predigt über Elias am Horeb auf eine fast allgemeine Verständnislosigkeit - einzelne gaben ihrem Unwillen sogar auf recht drastische Weise Ausdruck.
Das berührte den sensiblen jungen Pfarrer derart, daß er die kommenden Synoden gemieden hat und vor Besuchen im Pfarrhaus eines Freundes jeweils Gewähr haben wollte, daß sein Haus "kollegensicher" sei... 
Wir lesen nun, wie William Wolfensberger den bekannten Bibeltext vom Kampf des Jakob am Jabbok ausgelegt hat: 

"Es gibt sehr fromme Menschen, welche glauben, das göttliche Leben und der Segen der Ewigkeit fallen einem in der Schoß. Sie meinen, in seiner Art lasse sich auch das Letzte und Höchste erlisten und erstehlen. Sie sind wie Jakob, der den Segen des Erstgebornen an sich riß und dennoch Zweitgeborner blieb. Bist du Jakob, so nimm es auch hin als dein Geschick: Du kommst um den Jakobsweg nicht herum. Und sind wir nicht alle Zweitgeborne? 
Zwischen Beersaba und Haran war es, auf der Flucht unterwegs. Eine ruhelose Seele ist unterwegs. Hatte er nicht den Segen Gottes auf seinem Haupte? Wie denn: Ist Ruhelosigkeit die erste Segnung, welche wir erhalten? Hatte er nicht Gottes Segen erlistet, um es besser, bequemer, schöner zu haben? 
Zwischen Beersaba und Haran träumte er noch einmal diesen Traum der Jugend: Der Himmel steht offen. Der Zugang zu den Himmeln ist so leicht. Wie eine Leiter ist er, Engel Gottes gehen auf und nieder. Es ward ihm eine Verheißung in die Fremde. 
Oder war es keine Verheißung? War es der Abschluß eines Vergangenen? Noch war er ein Tor: Es galt ihm als Verheißung: Es würde ihm alles leicht werden. 
Und es wurde leicht. Große Herden, Hab und Gut, Liebe und Liebeserfüllung, - kann einen das Leben reicher beschenken als es diesen Jakob beschenkte? Bis ihn mitten in all dem irdischen Wust das Heimweh packt und rüttelt. Aus törichten Jugendträumen steigt heiß das Heimweh des Mannes auf: Was hilft mir all das, wo ich doch das Beste verlor! 
Das war eine Umkehr! Mit Vieh und Knechten, mit Weib und Gesinde! Auf fremdgewordnen Wegen, in Hitze und Staub, durch Nacht und Not geht ein Zug. Er geht Woche um Woche auf schlimmen Wegen. Eine Staubwolke ist darüber. Es ist schwerer heimzukehren mit Besitz als mit kleinem Bündel. 
Hatte er auch je Ruhe gehabt? Eine ruhelose Seele ist unterwegs. War nicht Gottes Segen auf seinem Haupte? Wie, segnet der Allmächtige mit Unruhe?
Es ist kaum vorwärtszukommen. Rückt die Heimat immer ferner? Er sucht in der Nacht verzweifelt den Weg, - bei Jabbok war´s. Wie suchte er mühsam den Übergang! O diese Furten, bis die gefunden sind! 
Da, mitten im Dunkel, am fremden Ort packt es ihn an. Soll ich am Ende alles aufgeben? Ich bin verflucht, aber nicht gesegnet. Segen und Fluch wohnen ja so nah beieinander. Wortlos im grauenhaften Dunkel ringen sie zusammen, Brust an Brust. Da hat dich ein unermeßlich Starker gepackt, Jakob. 
Soll ich nachgeben? Vielleicht ist die Heimat fern, unerreichbar. Du bist doch zu müd, um mit all dem erworbenen Bettel dich heimzufinden. Laß nach... laß nach... Ach, ich bin des Treibens müde... 
In Not und Müdigkeit kommt ihm die Jakobsgröße. In die Heimat will ich. Ich will. Ich will. Ich will. Warte nur, ich habe noch einen guten Griff! Ich... lasse dich nicht... du... segnest mich denn...
Da war er schon Meister geworden. Er hatte zerbissene, blutige Lippen. Dort ist die Furt! Nicht Jakob bist du mehr, bist Israel geworden! Hast mit Gott gerungen und gesiegt. Siehst du, wie das Morgenrot anhebt? 
Du Jakob, hörtest du deine Geschichte? Du vielgeschäftiger, erfolgreicher Fremdling. Du glücküberhäufter Heimatloser. Durchschreckte es dich nie: Was hilft mir alles, ich bin ja in Haran, der Fremde! Durchfror es dich nie: Was hülfe es mir, wenn ich den glänzendsten Weg, die erfolgreichste Karriere machte, litte aber Schaden innen, innen. 
Vielleicht bist du ein mutiger, trotziger Mensch und kehrst um. Wie brennt das Heimweh nach dem verlorenen Gott. Wandere zu. Besinne dich nicht. Kennst du die große Abkehr der Wissenden, die hinter alles schauten, hinter alles? 
Wie Jakob geht es dir. Nach einem Leben voll Erfolg, voll Erfahrungen, mit erworbenen Reichtümern ist das letzte doch der große Heimwehschrei des Entfremdeten: Was hilft mir all das?! 
Wie Jakob geht es dir: Die Reise hat kein Ende. Keiner ahnt, wie weit er abgeraten ist. Das sind Märsche. 
Wie Jakob geht es dir: Ehe du Gott erreichst, gilt es einen Kampf bei Jabbok an der Furt. Es geht auf Leben und Tod. Ebenbürtig an Kraft mußt du dich zeigen, sonst kann es dir nicht gelingen. 
Nicht der goldene Traum einer Himmelsleiter, wo man bequemen Zugang zu Gott hat, ist die letzte Wahrheit des Lebens. Gott wird anders gefunden:
In der Nacht deines Lebens, wenn du einsam den Übergang suchst, begegnet er dir und versperrt dir selber Weg und Furt. Das ist freilich nicht der süßliche Gott des Knaben, der nach Haran flieht. Es ist ein anderer: Der Gott, der nicht lange fragt, der dir Gewalt antut, dich packt und schüttelt. Kennst du diesen wahnsinnigen Tanz um das Erstgeburtsrecht von Jabbok? 
Weißt du, wie es ist, im Grauen aufschreien zu müssen: Wer bist du? Bist du Gott oder Satan? Was verfolgst du mich? 
Bis es dich wie ein Licht durchzieht: Er selber ist es. O warte jetzt. Nach all den Mühen von Haran bis Jabbok leist ich dir jetzt ein Meisterstücklein. Sollte nicht ein Schweizer diesen zähen Kampf, diese Kraftprobe und den schäumenden Trotz gut verstehen? 
Ebenbürtig werden ist alles. Vollkommen werden wie er, nannte es einer, der den Rung auch hat wagen müssen. Aus dem alten listigen Jakob sollte ein Israel werden. 
Du stehst in der Nacht deines Leben drin? Du suchst einen Übergang? Kämpfe, liebe, leide, schaffe! Siehst du dort über der Furt Jabbok deinen neuen Tag?"

Ist es nicht ergreifend, wie die Geschichte des Jakob plötzlich zu unserer Geschichte wird? Sein Lebenskampf wird unser Lebenskampf, sein Gott wird unser Gott, und seine Hoffnung ist mit einemmal die unsere. 
Wenn der Weg mal nicht mehr weitergeht, wenn etwas uns hindern will, wenn es Kraft braucht, wenn es Nacht wird, wenn wir mal eins abbekommen (aufs Hüftgelenk), und wenn wir dann nicht ganz sicher sind: Ist es jetzt der Teufel oder ist es Gott? - dann dürfen wir an den Gott Jakobs denken, der auch unser Gott ist. Wenn unser Lebensfluß mal nicht mehr fließen will, dann dürfen wir an den Gott bei der Furt des Flusses Jabbok denken, der den Jakob gepackt hat. Ja, es hat ihn gepackt! ER hat ihn gepackt! Das ist auch der Gott Jesu, der den Menschen anspricht und berührt, der ihm nachgeht, der sich nicht zu gut vorkommt, einzugreifen in dieses unser menschliches Dasein. Wir haben einen "packenden" Gott, einen, der zupackt, der auch mal mit seiner festen Hand in unser Leben eingreift. Das ist nicht immer schön fein und distanziert und angenehm. Aber: es lebt, wir leben mit diesem Gott! 
Wohl uns, wenn wir dann nicht ausweichen, wenn wir den Kampf mit dem Leben aufnehmen und uns der harten Herausforderung stellen. Wohl uns, wenn wir uns packen lassen von diesem Gott und ihn auch festhalten. Dann gibt es nicht nur den Kampf, sondern auch den Segen.

"Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn."

Das können auch wir sagen, wenn wir Gott festhalten, bevor wir uns lösen in der Freiheit und im Vertrauen seines Segens. Das können auch wir sagen, bevor wir als von Gott Gesegnete wieder vorwärtsblicken und unsere Reise im anbrechenden Tag fortsetzen. 
Ich wünsche uns allen, daß wir uns von Gott packen lassen und uns umgekehrt auch an ihm festhalten. Ich wünsche uns allen, daß Gott uns segnet, gerade dann, wenn wir es am wenigsten vermutet hätten!


last update: 05.03.2016