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LEID UND REIFE
Predigten zu Texten von William Wolfensberger


Advent
Die stille Wahrheit

Jesus sagt: 
"Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurückblickt,
ist tauglich für das Reich Gottes." 
(Lukas 9,62)

"Wenn der Herr das Haus nicht baut, 
vergeblich arbeiten daran die Bauleute; 
wenn der Herr die Stadt nicht bewacht, 
vergeblich wacht der Wächter." 
(Psalm 127,1)

In diesen Adventswochen und kurz vor Weihnachten, wo wir so vieles abschließen und mit so manchen Vorarbeiten beschäftigt sind, mögen wir uns zwischendurch mal fragen: Worauf kommt es an? Welches - um mit dem Dichter Eichendorff zu reden - ist das Zauberwort, das es zu treffen gilt, damit die Welt anhebt zu singen? Was können wir tun, damit es richtig Weihnachten wird bei uns? 
Wir geben uns viel Mühe, und dann spüren wir vielleicht eine Nervosität um uns herum oder in uns drin: Die Kinder wollen nicht ruhig sein, "beleidigte Leberwürste" nagen an unseren Kräften, dies oder jenes will einfach nicht gelingen, es fehlt ein Licht. Wir stoßen an unsere Grenzen, und mit einem Mal schreit die Seele auf: Was fehlt denn noch? 
Unserem Dichterpfarrer William Wolfensberger waren solche Situationen nicht fremd. Und da leuchtete ihm jeweils ein Satz aus der Kindheit im Herzen auf, der ihn tröstete und ihm neue Kraft verlieh:

"In unserer Stube daheim, wo in meiner Jugendzeit zehn blanke Kinderaugenpaare alltag um den Tisch leuchteten, hing an der Wand ein Spruch. Auf die Bank stehend entzifferte ich ihn mühsam mit kindlichem Buchstabieren: An Gottes Segen ist alles gelegen. 
Über viele blonde, braune, runde Kinderköpfe, über zwei ergraute Häupter hinweg schaute der Spruch, eine blauäugige, stille, versonnene Wahrheit. 
Über den Alltag hinaus mit dem Vielerlei, über alle Gespräche von Gewinn und Verlust, von Geschäft und Risiko schaute der Spruch mit nachdenklichen Augen hinweg und redete eindringlich zu einem Kinde von seiner stillen, ewigen Wahrheit. 
In viel Not und Leid stand er später vor der Seele des Jungen und leuchtete wie ein Gestirn aus dem Dunkel der Bekümmernis und der Verzagtheit: An Gottes Segen ist alles gelegen, eine starke, stille Wahrheit.
In Arbeit, Unrast und Bedrängnis flüsterte er dem Mann: Du sorgst dich um Menschen? Du schaffst für Menschen? Warte nur. Warte nur. Aber nicht an den Menschen, an eines Andern Segen ist es gelegen. 
Es liegt ein Acker, ich muß ihn bauen. Ich muß. Ist es gutes Land? Ist es harter Grund? Du Tor, was kümmerst du? Sorgt auch die Knospe um die Frucht? An Gottes Segen ist alles gelegen."

In Zeiten der Not und der Anfechtung, oder in unsicheren Zeiten wie wir sie heute haben, ist es gut, über geistliche Reserven zu verfügen. Da entspricht es einem Glücksfall, wenn die Seele über Notvorräte verfügt, wenn sich ein Sätzlein aus der Kindheit wie ein Engel einstellt, der einem hilft. 
An Gottes Segen ist alles gelegen. Ich muß ja gar nicht alles selber tun! Mit meinem Sorgen erreiche ich nicht, was ich will. Ich darf Gott auch noch etwas tun lassen. Gerade gläubige, gewissenhafte Menschen müssen in ihrem Streben nach dem Guten darauf bedacht sein, Gott auch noch Raum zu gewähren... Kurios, nicht wahr? Aber es ist so. 
Sonst ergeht es uns, wie der Reformator Martin Luther einst gesagt hat: "Wir leben mitten im Segen Gottes und merken ihn nicht." Wir dürfen uns das immer wieder sagen lassen: Zuerst schafft Gott, zuerst gibt er seinen Segen für ein Werk; und wenn er diesen Segen nicht gibt, ist alles Mühen umsonst. Das bedeutet allerdings auch, daß uns gegen Gottes Willen niemand etwas anhaben kann. Der Apostel Paulus sagt in Röm.8,28:

"Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, 
alle Dinge zum Guten mitwirken, 
denen, die nach Vorsatz berufen sind."

Und auf einem Porträt-Gemälde des einstigen Wartauer Pfarrers Hans Rudolph Tschudi von 1705 lesen wir die weisen Worte:

"Wider Gottes gunst, schafft kein Vergunst 
schafft nit sin Gunst, ist alles umsunst."

Dieser starke Glaube, dieses feste Vertrauen brachte den begnadeten russischen Erzähler Feodor Michailowitsch Dostojewskij zu folgender Überzeugung, die er in seinem Werk «Dämonen» niederschrieb: "Alles ist gut... Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, daß er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort, im selben Augenblick..." 
Bei allem Streben, bei allem Arbeiten und Mühen, bei aller Fürsorge, die wir unseren Kindern und anderen Menschen angedeihen lassen, dürfen wir stets wissen und uns immer vor Augen halten: Das Entscheidende leistet Gott. ER nur kann uns beschützen und behüten, ER allein gibt den Segen zum Gelingen - oder er gibt ihn nicht. Mit Gott können wir alles tun, gegen Gott vollbringen wir nichts. An seinem Segen ist alles gelegen.

Ein erschütterndes Beispiel für einen Menschen, der das aus tiefster Überzeugung gelebt hat, ist der einzige Papst, welcher in der Geschichte der Kirche freiwillig zurücktrat: Coelestin V. dankte am 13. Dezember 1294 ab. Nach seinem Tod wurde er zum Engelpapst verklärt und 1313 heilig gesprochen. 
Zu prächtig fand er die Amtstracht, zu großartig dünkte ihn der Palast. Papst Coelestin V., einem ehemaligen Mönchen, war es in der päpstlichen Residenz so unwohl, daß er sich eine Holzzelle einbauen ließ. Und am 13. Dezember 1294 kam, was kommen mußte: Coelestin V. - ein Papst fern aller Unfehlbarkeit - erklärte, daß er manches gut, anderes weniger gut gemacht habe, legte den päpstlichen Mantel ab und zog wieder eine Mönchskutte an. Damit war das Pontifikat Coelestins V. nach fünf Monaten und neun Tagen beendet. Freiwillig, wohlüberlegt und unwiderruflich. 
Die Vorgeschichte dieses einmaligen Ereignisses: 1209 oder 1210 wurde in den Abruzzen ein Pietro geboren. Er stammte von einfachen, aufrechten und gottesfürchtigen Eltern. Aus dem Bauernsohn wurde ein Benediktiner, ein Einsiedler, ein Heiliger - und schließlich der Papst. Und aus der Eremitenhöhle am Monte Morrone erwuchs eine Gemeinschaft mehrerer Klöster. 
Pietro von Morrone führte seiner Kongregation erfolgreich Schenkungen und Glaubensbrüder zu. Dabei lebte der tüchtige Organisator sehr einfach. Dann aber stürzte der Gottgefällige in den Tumult seiner Zeit: Zwei Jahre Sedisvakanz, der Heilige Stuhl war verwaist und wollte besetzt werden. Aber die Kardinäle debattierten, ohne die für eine Papstwahl erforderliche Mehrheit zu erreichen. 
Während die Kardinäle stritten, wurde es im Kirchenstaat ohne Herrscher brenzlig: In Rom erhob sich das Volk, und benachbarte Stadtstaaten gingen auf Beutezüge. In der Not einigten sich die Kardinäle auf den frommen Pietro del Morrone. An der ungewöhnlichen Wahl eines über 80jährigen ohne kuriale Erfahrungen gab es nichts zu deuteln: Der Heilige Geist hatte entschieden, jedenfalls verkündete das Wahldekret eine Inspirationswahl. 
Alle Parteien hofften wohl, der brave Greis werde nicht eigenmächtig handeln. Aber Pietro von Morrone wollte erst gar nicht antreten. Seine Lebensgeschichte legt ihm nicht unbedingt authentische, sicher aber zutreffende Sätze in den Mund: "Wer bin ich, um eine so große Last, eine solche Macht zu übernehmen? Ich schaffe es nicht, mich selbst zu retten; wie soll ich da die ganze Welt retten?" 
Pietro von Morrone ließ sich überreden und als Coelestin V. ausrufen. Er förderte seine Kongregation der Benediktiner und viele Bittsteller großzügig, war aber dem weltumspannenden Amt nicht gewachsen. Coelestin sah dies wohl ein, vermißte seine stille Einsiedelei und entschloß sich, zurückzutreten. 
Diese einmalige Abdankung löste Gerüchte und Spekulationen aus. Sein Nachfolger war so beschaffen, wie es für einen Machtpolitiker und scheinbar auch für einen erfolgreichen Papst gerade nötig war; Bonifaz VIII. schuf klare Verhältnisse: Coelestin wurde verhaftet und blieb bis zu seinem Tod am 19. Mai 1296 im Kastell von Fumone gefangen. Dieser Diener Gottes mußte also für seine Bescheidenheit büßen.
Alle anderen Päpste - einerlei wie gut, wie schlecht sie waren - erwiesen sich als Herrscher, und solche halten, wenn sie klug genug sind, unfehlbar an ihrer Macht fest. 

Ich meine: auch wenn Pietro von Morrone seine schlimme Nachgeschichte zum voraus gewußt hätte: Er hätte auch dann so entschieden. Denn es entsprach seiner Haltung, seiner Lebenseinstellung, seinem Glauben. Wie es unsere Bibelverse aus dem Neuen und dem Alten Testament sagen:

"Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurückblickt,
ist tauglich für das Reich Gottes."

"Wenn der Herr das Haus nicht baut, 
vergeblich arbeiten daran die Bauleute; 
wenn der Herr die Stadt nicht bewacht, 
vergeblich wacht der Wächter." 

Und wie es der kleine William Wolfensberger an der Stubenwand seines Elternhauses entzifferte: An Gottes Segen ist alles gelegen. 

Oder wie wir es an einem Prättigauer Haus lesen: 

"Mir genügt, wie Gott es fügt."

Wenn unser Leben auf diesem Glauben gründet, dann wird uns das Wichtigste immer Tag für Tag gezeigt und gegeben, dann treffen wir das Zauberwort, und das Reich Gottes kommt uns mit seiner Melodie entgegen... 


last update: 05.03.2016