LEID UND REIFE
Predigten zu Texten von William Wolfensberger
Weihnachten
Joos - Der gute Hirt
Jesus sagt:
"Ich bin der gute Hirt;
der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.
Ich bin der gute Hirt und kenne die Meinen,
und die Meinen kennen mich.
Und ich gebe mein Leben hin für die Schafe."
(Johannes 10,11.14.15)
Weihnachtsmelodien, Hirten,
Engel, Gute
Botschaft - Zeichen einer anderen Welt reden in diesen Tagen zu
uns.
Und wir kennen diese unsere Welt zur Genüge: Es ist die Welt der
Superlative (cool, mega-cool, giga-cool) statt der Genügsamkeit, die
Welt des Übervorteilens statt des Teilens, des gegenseitigen
Austricksens
anstelle der Solidarität.
Das Reich Gottes, dessen Zeichen wir in der Weihnachtsbotschaft
vernehmen,
war damals und ist heute eine Gegenwelt, eine neue Welt. Manche meinen,
es müßte viel schneller anbrechen und sich durchsetzen. Ich
kann diese Ungeduld gut verstehen, denn sie entspringt einer großen
Sehnsucht nach Heil, Frieden, Gerechtigkeit und Geborgenheit. Aber das
Reich Gottes bricht langsam an - dafür beharrlich und unumkehrbar.
Sie ist nicht mehr rückgängig zu machen, diese Gute Botschaft
von Weihnachten. Es ist nicht mehr aufzuhalten, das Reich Gottes.
Allen, die daran glauben und von Herzen auf die Rettung vertrauen,
muß der Weg dahin zum Segen werden.
Heute will ich uns ein bestimmtes Bild des geborenen Heilandes lieb
machen, das Bild des guten Hirten, der die Seinen kennt und den die
Seinen
kennen, des Hirten, der sein Leben hingibt für seine Schafe - dieses
Bild will ich uns heute lieb machen. Es ist kein Zufall, daß Vertreter
des Berufsstandes der Hirten die ersten waren, welche das Evangelium
vom
Kommen Gottes hören durften. Der geborene Retter sollte sich selber
als der gute Hirte erweisen.
Bei William Wolfensberger habe ich einen Hirtentext über "Joos"
gefunden:
"Ich habe ihn gut gekannt, den alten Joos. Es ist wahr, das
Dorf, dessen
Schafe er hütete, war armselig genug, und die Handvoll Kleinbauern
ließ es ihn merken, daß er Hirt war und sie die Herren. Die
Herren! Aber wenn er aus dem hölzernen Napf abends an ihren Tischen
das ärmliche Mahl aß, wußte man, wer Herr war. Von seiner
hohen Gestalt, die ein wenig vornübergebeugt war, ging es aus. Oder
ging es von seinem Antlitz aus mit dem langen, dichten, schneeweißen
Bart? Oder vielleicht von seinen Augen, die so ruhig und sicher
dreinschauten?
Oder kam es daher, daß er ein wahrer König war im Schweigen?
Ich weiß es nicht.
Selten hat er geredet, - wenigstens mit den Menschen. Aber wenn er
unterwegs war mit seiner Herde, die er bis zum Gipfel des Piz Doro
hinauf
weiden ließ, hat er geredet. Er kannte ja alle Tiere. Das war zum
Verwundern schön. Die Schafe gleichen sich doch so sehr, diese
Herdentiere,
die sich so stumpfsinnig nachrennen, eines hinter dem andern her, eines
neben dem andern hin.
Er aber kannte sie. Es muß an seinem guten Auge gelegen haben.
Stumpfsinnig erschienen sie ihm wohl nicht. Sie erschienen ihm bloß
der Leitung und Fürsorge bedürftig. Taten sie denn etwas anderes
als sonst das Leben tut? Es folgt seiner Regung, das eine so, das
andere
anders.
Er hat mit seinen Tieren geredet. Sie haben ihn wohl verstanden. Schon
mit dem allerkleinsten Lämmlein redete er, das unterwegs von der Mutter
geboren worden war und das noch nicht gut mitkonnte, dessen
schneeweißes
Fell noch voll Blut war. Unter dem Arm trug er es mit. "So-so-so,
morgen
kannst du dann auch springen, bist jetzt noch schwach und dumm.
So-so-so,
schrei nur nicht so jämmerig, es ist nicht so schlimm zu leben, ihr
werdet ja geführt und behütet, und ich bin bei dir, so-so-so."
Einmal kam er früher heim als sonst. Er versorgte die Herde rasch
in die Ställe. Mit langen Schritten ging er wieder aus dem Dorf. Es
stand eine Unruhe und Besorgnis auf seinem Angesicht. Er war die ganze
Nacht unterwegs in den Bergen. Es war eines aus seiner Herde verloren
gegangen.
Er hörte es in der stillen, mondhellen Nacht hie und da kläglich
schreien, aber es war ein mühsam Holen. Wie hat er gesucht! Wie wurden
die Sinne scharf! Durch Risse und Klaffen, über magere Alpweiden und
geröllverschüttete Hänge suchte er. Er konnte nicht anders,
trotzdem es ja nur ein dummes Schaf war. Und obwohl er wußte, daß
es ihn noch nicht hören könne, sagte er unterwegs doch ganz laut:
"So-so, ich komme schon. Sei nur ruhig, ich bin unterwegs. Ich finde
dich
schon, du armes Dummes."
Müd kam er beim grauenden Tag in das Dorf, der gute Hirte.
Du und ich, wir beide verstehen das gut. Wir wollen es ja nicht an
der Rede haben, aber doch wissen wir es so gut, was es heißt, verloren
sein in Nacht und Not, in den Klüften, wo keiner mehr weiter kann.
Wir können nur mit der Gesamtheit leben, und bloß dann, wenn
diese geleitet wird. Wenn wir ein wenig abseits kommen, mißrät
es immer. Dumme Schafe sind wir. Wenn Einer uns nicht hütete, was
wäre es auch? Wenn Einer nicht sich um uns sorgete, wär1s zum
leben?
Du bist vielleicht ein stolzer, feiner Stadtmensch und lächelst
jetzt überlegen und denkst, es sei ein minderer Vergleich, moderne
Menschen immer noch mit Schafen zu vergleichen. Aber was tut1s, ob du
einen
halben Meter Abstand von deinem Vorder- oder Nebenschaf hast oder gar
keinen?
Macht denn das einen Unterschied? In der Irre schreist du dann doch
verloren
in die Nacht hinaus und bist so froh, wenn er kommt und du seine gute
Stimme
wieder hörst: "So-so. Da bin ich ja. Sei jetzt zufrieden, bist halt
ein Dummes."
Auch die Menschheit kam abseits. Jetzt sehen wir es gut. Sie ist in
eine schauderhafte Klaffe geraten, weil sie eigene Wege suchte und doch
nicht ohne den einen Hirten gehen kann. Sie kann jetzt aus der Klaffe
fast
nicht mehr hinaus und verblutet in der steinigen Sackgasse fast.
Wie stolz hat sich das Schaf von der guten Führung getrennt. Vielleicht
glaubte es, es habe sich über seine Schafnatur "hinausentwickelt"?
Wer weiß. Verwundet wie ein Tier schreit jetzt die Menschheit aus
dem Abgrund ihrer dunklen Not.
Es ist so gut, daß Er unterwegs ist. Er hört uns schreien.
Er weiß so gut, daß wir nachher wieder prahlen werden,
daß uns dies und jenes, unsere eigene Kraft und Gescheitheit aus
dem grauenhaften Loch geholfen haben. Er weiß es, daß wir nachher
nie zugestehen werden, wir seien elend in der Chrott gewesen und Er
habe
uns herausgeholfen. Wir werden sagen, daß wir abseits dies und jenes
getan hätten im Interesse einer höheren Schafskultur.
Es macht Ihm aber nichts. Er ist unterwegs. Er lächelt ein wenig,
wenn er daran denkt. Seine Liebe ist so über alle Massen. Er lächelt,
es zittert ganz froh über sein altes, erfahrenes Angesicht. Wenn er
uns nur wieder in Händen hat und uns über den zerfetzten, blutigen
Pelz fahren kann: "So-so-so, o du Dummes, hast Angst gehabt?"
Es geht Wolfensberger sicher nicht um die Herabwürdigung des
Menschen
zum Schaf. Es geht ihm ums Leben, um die Beziehung von Gott zu uns
Menschen
und von uns Menschen zu Gott.
Wie ist es ein Irrtum, wenn wir denken, wir brauchen Gott nicht! "Mit
unsrer Macht ist nichts getan", sagt das Kirchenlied zu recht. Und wie
dürfen wir uns freuen, wenn wir die Nachricht vernehmen und glauben,
daß Gott für uns sorgt! Die Weihnachtsbotschaft hat zwei Seiten:
Das Kind in der Krippe braucht dich - wir haben einen Gott, der uns
braucht;
und jedem von uns zeigt er, wo. Und die andere Seite: Du brauchst
diesen
fürsorglichen Gott - du hast einen Gott, der dir den Weg bereitet
und dich darauf führt, und auf diesem Weg des Lebens mit Gott ist
nichts umsonst, nichts. Dieses Geben und Nehmen, diese wechselseitige
Beziehung,
dieses Bleiben und zugleich Unterwegs-sein findet einen zutreffenden
Ausdruck
im Hirtenbild, das ja keine Idylle ist, wenn man drin lebt, sondern
Wirklichkeit
mit ihrem Schönen und Harten. Der meistgelesene persische Klassiker,
Scheich Saadi, hat uns im 13. Jahrhundert folgendes kurze Gespräch
zwischen dem Hirtensohn und seinem alten Vater überliefert:
Der Hirte sprach zu seinem alten Vater:
"Gib einen Rat, verständiger Berater!"
Der sprach: "Sei still und friedlich bei der Herde,
doch so nicht, daß des Wolfes Zahn frech werde."
Zum Fürsorglichen gehört immer auch das Wehren, das Kämpfen,
das Einstehen für den Schwächeren. Gott kämpft um uns Menschen
- er sehnt sich nach unserer Liebe zu ihm -, und er will, daß auch
wir uns einsetzen für sein Reich und kämpfen für jene, die
uns anvertraut sind und jene, die uns begegnen und mit uns ein Stück
Weges gehen auf dieser Erde.
Die Geburt Gottes ist eine ernste, verändernde Angelegenheit und
nicht nur eine elegante Überbrückung der dunkelsten Jahreszeit,
kein Idyll für zwei Tage im Jahr. Hans Norbert Janowski hat zur
Weihnachtsgeschichte
von Walter Jens darüber geschrieben:
"Der christliche Mythos von der Geburt Gottes ist durchaus
kein Idyll;
er ist Geschichte und zeigt von vornherein und in allen seinen Zügen
die Farben der menschlichen Realität. (...) Das Gotteskind wird geboren
auf einer beschwerlichen Reise, die zu dem profanen Zweck einer
Volkszählung
und Steuererfassung gemacht werden muß. Gott wird Mensch inmitten
einer dürftigen Umgebung, in Gesellschaft eines armseligen Personals
und in einer Notunterkunft, am Rande der zivilisierten Welt; kein
heimlicher
Prinz, welcher der Maria in den Schoß gelegt wird. (...)
Um eine Feststellung ist es dem Evangelisten offenbar gegangen:
Ausgerechnet
über diesem dürftigen und zufälligen Szenario öffnet
sich der Himmel. Dieser Säugling ist der erwartete Messias. (...)
Der Himmel, der sich über der Szene von Bethlehem öffnet, das
Licht in der Nacht hat den Stall nicht in einen Palast verwandelt und
die
Hirten nicht zu wohlhabenden Leuten gemacht. Verändert hat sich die
Wirklichkeit dieser Menschen: Sie haben im Licht dieser Nacht erkannt,
daß im Kind in der Futterkrippe der Herr des Kosmos gegenwärtig
ist. (...)
Die Pointe der Weihnachtsgeschichte greift aber noch darüber hinaus:
Der Hymnus des Himmelsheeres umgreift den ganzen Kosmos und bezeichnet
erst die Dimension des Anspruchs dieses Evangeliums. Es besingt die
überirdische
Herrlichkeit Gottes und verkündet auf der Erde: Gottes Frieden! Frieden
allen, die er liebt!"
Die Bibel läßt keinen Zweifel daran: Die Weihnachtsbotschaft
betrifft das All, sie betrifft alle und alles - und sie verändert
dort, wo sie offene Herzen vorfindet.
Wie das Evangelium verändern kann, habe ich in diesen Tagen am
schönsten und prägnantesten in Worten von Friedrich Schorlemmer
ausgedrückt gelesen:
"Wo aus Übermut Sanftmut und aus Wankel-Mut ein Wandel-Mut
wird,
wo aus Eigen-Sinn Gemein-Sinn, aus Leid Mitleid, aus Hartherzigkeit
Barmherzigkeit,
aus Vergeltung Vergebung, aus Sorge Fürsorge, aus Vorherrschaft
Partnerschaft
und aus dem Geschöpf das Mitgeschöpf wird - da wird aus dem Menschen
ein Mitmensch. (...) Da wird aus unproduktiver Zerstrittenheit eine
produktive
Einheit. Der umgekehrte Weg mag noch so wahrscheinlich sein;
Wahrscheinlichkeit
ist kein ethisches Argument, sondern statistische Resignation.
Hoffnung kann sich gegen Erfahrung stellen, wo sie Bedrängnis
aushält, sich in Geduld bewährt. Schließlich ist alles
Vertrauen gegen den Augenschein, abgrund-tief, himmel-hoch. (...)
Wo über uns nicht mehr der Himmel von Bethlehem aufginge, aus
dem der Engelsgesang des Friedens für die Erde kommt, bliebe uns nur
Sorge."
Stattdessen wird für uns gesorgt. Und zwar so, daß aus unseren
Sorgen Fürsorge werden darf.
Diese Hirtenpredigt zu Weihnachten soll mit einem Gedicht von William
Wolfensberger schließen, das hoffnungsvoll in die Zukunft weist,
denn als Kinder Gottes haben wir, in welchem Alter wir auch sein und in
welcher Lage wir uns auch befinden mögen, eine Zukunft im Leben mit
Gott.
"O sieh! In Nacht und Nöten
Sehn wir die dunkle Bahn,
Nach deinen Morgenröten
Wir schauen himmelan.
Wir wandern dir entgegen
Durch dieses Graun der Welt,
Du bist doch allerwegen
Der uns die Treue hält.
Ob wir dich gar verloren
Und in der Irre sind,
Du hast uns doch erkoren
Wie ein geliebtes Kind.
Und deine Hände hegen,
Daß keines daraus fällt,
Du bist doch allerwegen
Der uns die Treue hält.
Und wenn wir voller Wunden
Nun wegesmüde gehn,
Wenn wir uns heimgefunden,
War es für dich geschehn.
Du hast verborgnen Segen
Uns schon bereitgestellt,
Du bist doch allerwegen,
Der uns die Treue hält.
Du heilst den sehrsten Schaden
Aus deiner Güte Born,
Du machst in dunkeln Gnaden
Uns wie gereiftes Korn
Und lockst uns dir entgegen
Nach deiner stillen Welt,
Du bist doch allerwegen
Der uns die Treue hält."
last update: 05.03.2016
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