CHRISTentum.ch
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LEID UND REIFE
Predigten zu Texten von William Wolfensberger


Umschlag des Büchleins "Religiöse Miniaturen" (1917),
neu aufgelegt 1935 bei Eugen Salzer in Heilbronn


Die beide Püürli

Der Apostel Paulus schreibt: 
"Verabscheuet das Böse, hanget dem Guten an! 
In der Bruderliebe seid gegeneinander herzlich gesinnt! 
Freuet euch mit den Fröhlichen, weinet mit den Weinenden! 
Seid gleichgesinnt gegeneinander! 
Vergeltet niemandem Böses mit Bösem; 
seid auf das Gute bedacht vor allen Menschen! 
Ist es möglich, soviel an euch liegt, 
haltet mit allen Menschen Frieden!" 
(Römerbrief 12, 9 ff.)

Jeder wird wohl seine Neiderfahrungen gemacht haben. Was der andere hat, ist besser und schöner; es glänzt einfach mehr... Besonders, wenn man selber kein´s hat. Ganz nach dem Motto: Was ich will, das habe ich nicht, und was ich habe, das will ich nicht. Der geschickte Antiquitätenverkäufer weiß das und steckt sich die auserlesensten Ringe gleich selber an die Finger. Er darf damit rechnen, daß bald einmal ein Kunde erscheint, der mit seinem Stück an der Hand liebäugelt. Etwas «wehmütig» nimmt er dann den Ring vom Finger und verkauft ihn halt. Der Kunde ist König! 
In meiner Studienzeit hatte ich das Glück, einem Menschen zu begegnen, der mir erklärte, wie er sich vom Neid mit einem ganz bewußten Entscheid losgesagt hatte. Er meinte: "Wenn es meinem Nachbarn gut geht, dann freue ich mich mit ihm. Es geht mir ja deswegen nicht schlechter, im Gegenteil: Wenn es ihm gut geht, habe ich auch mehr davon." Diese Argumentation leuchtete mir ein, sie beeindruckte mich; und was mir jener Mensch von sich preisgegeben hat, das hilft mir oft, den Neid erst gar nicht aufkommen zu lassen, und wenn er sich doch einmal in mein Herz einschleichen will, frage ich nach seinem Grund und versuche ihn zu beheben. 
Eine Spruchweisheit sagt: 

"Man findet sein eigenes Leben 
gleich viel schöner, wenn man aufhört, 
es mit dem Leben der Leute von nebenan 
zu vergleichen."

Daß man es auch anders halten kann, berichtet William Wolfensberger in seiner Erzählung "Die beide Püürli":

"Es sind emal zwee Nochbere gsi, und käine hät em andere nüt möge gunne. Hät dr äint im Herbscht vo dr Alp e par Kilo mehr heinäh chönne, so häts dr ander ehländ pisse. Hät dr ander en Monet druf vo siner Sou meh chlini Söili übercho, so ischs em Nachbar (däm mit em vielen Anke!) gsi, er müesi Gufe chöje vor Niid. 
De lieb Gott hät däre trurige Sach lang zueglueget und isch dänn ame schöne Sunndigzabig, won er gmäint het, er chönn es Augeblickli ewäg vo siner strängen Arbet, de Himmelswäg abecho uf d Aerde. Er hät bisi tänkt: "Seh, chame iez ächt däne zwee Hösene s Niide nüd ustriibe?" 
Er ischt wienen äifache Mah zum Erschte vo däne Zweene ine gange und hät es Wiili mit em gredt. So, wies em göng? So, wieners heb? Was d Frau machi, und wie d Chinde zwäg seiged, und öbs Veh grahti? De Puur hät em Uuskunft gäh und hät grüemt und e zfrides Gsicht gmachet. De lieb Gott hät Fröid gha und bisi Îtänkt: «He, iez lueg m1r au da ane, schlächt isch er gliich nüd.» Und sait zuenem: «Seh, wöisch dr öppis. Chasch säge was d witt. I bi nämli dä lieb Gott.» 
Das Püürli lueget en e chli vo dr Siite-n-a, woner das gsäit hät, bsinnt si es Wiili und säit uf eimal: "So wöisch i, dass es em Chari däne nie besser göng als mir!" 
De lieb Gott luegeten es Wiili ah mit sine blaue Stärnenauge und säit dänn: "Hä nu, so häsch es halt!" 
Er isch ganz trurig us em Hus und zum andere dure. Er hät en au allerlei gfraget. So wies em göng? So wieners heb? Was d Frau machi, wie d Chinde seiged, und öbs Veh grahti? Er hät früntli Uuskunft übercho und hät si gfröit und tänkt: "Hä, er schiint juscht nüd so leid suscht." Zletscht säit er em au, er sölli oppis wöische. Er sei ebe dä lieb Gott. Er chönn säge, was er well. 
Was meined er, was dä dunners, güggellers Gagel gwöischt hät?! 
S gliich! Uf dä Tupf s gliich!! 
"He nu," süfzet de lieb Gott, "so häsch es halt. Es läbt jede, wiener wöischt." 
Säits und gaht de gääch Himmelswäg deruf i sis goldig Huus und regiert d Wält wiiter. 
Und sisch e so usecho. Die zwei Püürli händ wiiter gwerbet. Beedne isch es guet gange, und beedne gliich schlächt: Will jede hät müese zueluege, daß es au em andere guet göng."

Ja "es lebt jeder, wie er es wünscht." Dieser Kernsatz aus der Erzählung Wolfensbergers trifft den Appell des Apostels Paulus an die Christen in Rom: "Seid auf das Gute bedacht". Da kann man mit gutem Willen schon etwas bewerkstelligen. Wir vermögen mit unserer Einstellung, mit unseren Gedanken und Empfindungen, denen wir uns öffnen, mit dem Geist, den wir einlassen, die Lebensart entscheidend zu beeinflussen. Das ist eine alte Sache. 
In unserem Jahrhundert wurde diese Beobachtung durch amerikanische Seelsorger mit dem Slogan "Die Kraft des positiven Denkens" propagiert. Es ist viel dran. Aber: man kann nicht alles durch Gedanken beeinflussen, und vor allem könnte das Mißverständnis entstehen, wir Menschen hätten alles in der Hand, wir seien gar nicht mehr auf die Gnade Gottes und das froh- und freimachende Evangelium Jesu Christi angewiesen. So ganz nach der Devise: "Jeder ist seines eig´nen Glückes Schmied." Diesen Satz soll man nicht für sich allein stehen lassen. Denn man könnte daraus folgern: Also ist auch jeder an seinem Unglück schuld - selber schuld! -, ich muß nicht helfen. Dabei ist echte Hilfe, ohne Dank zu erwarten und ohne auf Schuld zu schauen, etwas vom Besten auf der Welt. Die Frau des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten, die Ärztin Veronica Carstens, schreibt in ihrem Vorwort zum Buch Carl Hiltys "Für schlaflose Nächte": 

"Die älteste Erfahrung der Menschheit lautet: Ohne Gott schaffst du es nicht. Du jagst und arbeitest, du liebst und tust Gutes - Glück, Furchtlosigkeit, Gelassenheit ziehen in dein Herz nur ein, wenn du alles - aber auch alles - von Gott erwartest. Er schenkt dir, was dir zukommt. Du kannst es nicht erzwingen. 
Verläßt du dich aber auf ihn, erkennst du überall eine Aufgabe, die er nur dir - ganz allein dir - aufgegeben hat. Wenn sie dir zu schwer erscheint, verlaß dich auf ihn, er schenkt dir die Kraft, sie zu erfüllen. Du bist nie allein, du brauchst nichts zu fürchten, nicht einmal den Tod - den vielleicht am allerwenigsten. 
Wie ist es anders zu erklären, daß gläubige Menschen selbst in Gefahr, Gefangenschaft und äußerster Not noch ein helles Antlitz haben, daß sie rückblendend die schwersten Jahre ihres Lebens als die kostbarsten ansehen, weil sie die Nähe und den Beistand Gottes, seine tröstende Kraft erfahren hatten?" 

Der springende Punkt ist dies: Gott sorgt für uns, bevor wir sorgen können und müssen. Gott kennt unsere Gedanken; er kennt auch unseren Weg, und er weiß, was wir auf diesem Weg brauchen - und er gibt es uns auch noch! Wenn wir dieses Vertrauen haben und dankbar dafür sein dürfen, dann müssen wir nicht neiden. Wir haben keinen Grund dazu. 
Sobald wir merken, daß Neid in unseren Herzen aufkeimen will, sollen wir ihn nicht verdrängen, sondern uns eingestehen - das ist immer der erste Schritt zur Besserung - und dann nicht stehen bleiben, sondern die Einsicht nutzen und die Kraft nicht für Mißgunst verschleudern, also nach vorne blicken und sich fragen: Was habe ich für Möglichkeiten, die Situation für mich und für andere so zu verbessern, daß allen damit gedient und Gott die Ehre gegeben wird? Also: etwas in positiver Richtung tun. Dann geht es einen guten Weg. Denn wo Neid herrscht, da bleiben andere Laster nicht aus. Darum erscheint der Neid im Neuen Testament in den Lasterkatalogen. Der Neid drängt in negativer Richtung, er führt von der Wahrheit weg - und mit der Wahrheit ist alles verloren. Nun, schließlich ist noch das Gegenmittel für den Neid zu erwähnen, und dieses ist die Großzügigkeit. 
Mahatma Gandhi schreibt:

"Das Gegenteil von Neid
ist Großzügigkeit.
Großzügigkeit erlaubt uns nicht,
auf irgend jemanden neidisch zu sein.
Im Gegenteil, wenn wir in jemandem
etwas Wertvolles entdecken,
sind wir dankbar dafür
und ziehen noch Nutzen daraus."

So schreibt denn der Apostel Paulus: "Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb." (2.Kor.9,7) Wir sollen nicht denken, wir hätten nichts zu geben. Jeden von uns hat Gott beschenkt, jeden. Und die Gaben sind so verschieden, vielfältig und reich. Davon dürfen wir geben. Auf diese Weise geben wir weiter, was wir letztlich aus der Hand Gottes bekommen haben, und das ist ein Segen.


last update: 05.03.2016