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Mirjam-Lied
Eine Predigt von Jakob Vetsch Pfarrer
gehalten am 07.07.2002 in Zürich-Matthäus

Das älteste und kürzeste vom Alten Testament überlieferte Lied ist ein Siegeshymnus und wurde schon sehr früh im israelitischen Gottesdienst gesungen. Es steht im 2. Buch Mose 15,21 und lautet:

Singet dem Herrn, denn hoch erhaben ist er;
Ross und Reiter warf er ins Meer.

Dieses knappe Lied von Mirjam kannten alle Teilnehmer auswendig, und sie wussten natürlich ganz genau, was mit dieser einprägsamen Zusammenfassung gemeint war: Der Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten, die Flucht vor der Streitmacht des Pharao und der gelungene Durchzug durch das Schilfmeer:

Singet dem Herrn, denn hoch erhaben ist er;
Ross und Reiter warf er ins Meer.

Mit diesen Worten lobte der Israelit seinen Gott für die Rettung in die Freiheit, die sein Volk am eigenen Leib erfahren hatte. Ihnen zugrunde liegt ein Erlebnis schönster Befreiung, das Israel erst wieder richtig zu einem eigenen Volk machte und dem Einzelnen Würde verlieh. Dafür galt und gilt es Gott zu loben, denn Dankbarkeit bewahrt das Geschenkte, und Undankbarkeit macht es zunichte.

Mit Mirjam, welche dieses kleine und doch so bedeutende Lied sang, wird hier einer Frau ein wichtiger Platz eingeräumt. Sie gehörte mit Aaron zum engsten Kreis um Mose, und die Tradition hat diese drei gar zu Geschwistern gemacht, was auch ohne weiteres zutreffen kann. Weil wir das Lied durch Mirjam erhalten haben, nennen wir es das Mirjam-Lied. Es steht für das heilvolle Bewusstsein, dass Gott uns befreit, ja dass unser Gott ein befreiender Gott ist und wir seine Kinder sein dürfen, welche die Freiheit geniessen.
Diese Freiheit und Würde gäben wir aber preis, wenn wir nicht mehr wüssten, von wem wir sie erhalten haben und immer wieder geschenkt bekommen! Dieses Wissen will gepflegt sein und ausgedrückt werden. Darum wird es in Liedform weitergegeben, auf dass es ein lebendiger Teil von uns werde, den wir singen, und den Gott hört.

Den Durchzug durch das Schilfmeer hat nicht nur Mirjam besungen. Er klingt auch an im wunderbaren Psalm 66, und Psalm heisst ja aus der hebräischen Sprache übersetzt nichts anderes als Lied. Zu diesem Psalm hat im 9. Jahrhundert in der Nähe von Paris ein Mönch seine Empfindungen und seinen Glauben gemalt. Er stellte nicht nur die Aussage des Psalmes dar, sondern er zeichnete mit tiefer Begabung und Frömmigkeit auch gleich seinen Christusglauben in das Bild hinein.
Seinen Namen kennen wir nicht. Das Bild befindet sich im sogenannten Stuttgarter Psalter. Wir betrachten es ruhig, lassen es auf uns wirken und lesen die Psalmworte dazu.


Wir sind durch Feuer und Wasser gegangen

Jauchzt dem Herrn zu, alle Lande!
Besingt seine Herrlichkeit, rühmt ihn in Ehrfurcht.
Sprecht: wunderbar sind deine Werke!
Deine Feinde müssen sich beugen vor deiner grossen Macht.
Alle Welt beuge sich vor dir und singe dir,
singe deinen Namen.
Kommt und schaut die Werke des Herrn,
der so gewaltig ist in seinem Tun über den Menschenkindern.
Er wandelt das Meer in trockenes Land,
sie schreiten zu Fuss durch den Strom,
und wir freuen uns seiner.
Er herrscht ewig mit seiner Gewalt.
Seine Augen schauen auf die Völker,
Empörer können sich nicht erheben vor ihm.
Du hast uns in Bedrängnis geführt,
hast unserer Schulter Lasten auferlegt,
Menschen taten uns Gewalt, wir schritten durch Wasser und Feuer,
aber du hast uns herausgeführt in die Freiheit.

Mit den Worten "Er wandelt das Meer in trockenes Land" ist die Geschichte vom Durchzugs Israels durch das Rote Meer aus seiner Knechtschaft in die Freiheit gemeint. Bei "Sie schreiten zu Fuss durch den Strom" denkt der Psalmensänger daran, wie Israel nach vierzig Tagen Wüstenwanderung den Jordan überschreitet ins gelobte Land hinein. Der Mönch hat noch eine dritte Geschichte ins Bild gemalt: Wie Jesus seinen Jüngern begegnet, während er auf dem Wasser geht. Jesus wandert durch den Fluss, wie es die Geschichte vom Meerwandeln erzählt. Er trägt das Buch, das von der Rettung erzählt, und er trägt das Kreuz als Zeichen des Glaubens. Während Mose das Meer schlagen musste, geht Christus locker durch.
Jener Mönch, dessen Namen wir gar nicht kennen und der uns doch so reich beschenkte, scheute nicht davor zurück, in die Zeichnung zum alttestamentlichen Psalm seinen aus dem Neuen Testament gewonnenen Christus-Glauben einfliessen zu lassen. Er hatte es gespürt: Jener grossen Befreiungstat am Volk Israel folgte die zweite grosse Befreiungstat Gottes an allen Völkern. In Jesus Christus hat Gott sich selber uns Menschen geschenkt und uns aus der Knechtschaft der Sünde (die Gottesferne ist) und des Todes (der das Gegenteil des Lebens ist) befreit!
Schauen wir die Gesichter der Nachfolger Jesu an: Wie verwundert, erwartungsvoll und gelöst zugleich sie sind! Solche befreiten Menschen dürfen wir als Christen sein.
Schauen wir, wie eng die Nachfolger Jesu zusammenstehen! Eine solche Gemeinschaft dürfen wir als Christen bilden.
Schauen wir, wie zukunftsweisend die Nachfolger Jesu ihre Hände halten! So offen und unbelastet dürfen wir als Christen uns geben.

Wir sind zum Leben gerufen. Es liegt ein Land vor uns, in das wir getrost hineinziehen sollen. Wir dürfen es tun, indem wir das Loblied Gottes singen, als freie Menschen, die anderen Freiheit gönnen.
In einer derartigen Atmosphäre sollte es uns Schritt für Schritt möglich sein, von Zwängen und Ängsten frei zu werden, unser Leben stets unbefangen neu zur Diskussion zu stellen und wonötig Kurskorrekturen vorzunehmen. Ich denke an den Zwang zum Erfolg, an den Zwang zum Wohlstand und an den Zwang zum Wachstum. Erfolg heisst für uns doch wohl Nachfolge! Unsere Sache steht wohl, wenn wir in Gott stehen! Und Wachstum bedeutet in erster Linie innere Reife!
Vielleicht ist uns die technische Entwicklung davon gerannt. Und wir haben uns mitreissen lassen. Wir sind geflohen, ohne Gott. Wir sind Götzen nachgefolgt, nicht Christus. Wir wollten immer mehr, aber nicht vom Glauben.
Die Alternative sehe ich nicht in der Flucht zurück in die Steinzeit, aber auch nicht im Ignorieren der Probleme. Die Alternative sehe ich in einer Pause, in einem momentanen Stillestehen, wie das Volk Israel, als das Schilfmeer sich öffnete, und wie die Jünger, als Jesus über das Wasser wandelte. Eine kreative Stille, in der wir Kraft schöpfen, uns auf Gott besinnen, ihn und uns wieder finden, staunen, und danach den Weg als neue Menschen anders weitergehen.
Das Loblied ist ein Ausdruck vom Leben der neuen Menschen, die wir durch Christus sein dürfen.



last update: 03.08.2015