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Predigt 10. Dezember 2006, gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in der Kirche von Zürich-Matthäus


Jakob und Rahel – Die Geschichte einer grossen Liebe – 1. Mose 25 ff.

Zum zweiten Adventsonntag hören wir eine Geschichte, die von einer grossen Liebe handelt, einer Liebe auf den ersten Blick:

Ein Mann auf dem Weg nach Osten. Er hat nur einen Stock bei sich und eine Wasserflasche. Die Sonne hat ihren Zenit bereits überschritten, in wenigen Stunden wird die Nacht hereinbrechen. In der Ferne, am Horizont, taucht ein Brunnen auf. Um den Brunnen herum drei oder vier Männer, Schafe, Ziegen, Hunde. Die Männer, Hirten allesamt, warten, bis alle von ihnen zusammen sind; dann erst können sie den schweren Stein von der Brunnenöffnung schieben. "Wer seid ihr? Kennt ihr Laban, den Sohn Nahors?" Die Fragen des Fremden finden knappe, wortkarge Antworten. "Da kommt Rahel mit ihrer Herde, die Tochter Labans", sagt einer und dreht den Kopf. Der Fremde sieht das Mädchen, er packt den riesigen Felsblock und schiebt ihn mit einem Ruck weg. Die Hirten reißen die Augen auf, murmeln Unverständliches, wissen nicht, ob sie sich jetzt schämen oder den Fremden bewundern sollen. Das Mädchen aber strahlt und lacht. Zögernd tritt der Held heran; ihre Blicke treffen sich, er reißt das Mädchen an sich, küsst es und weint laut auf. Den Mann durchfährt es von oben nach unten: Das ist die Frau meines Lebens!

Mit so märchenhafter Liebe auf den ersten Blick also lernte nach dieser Erzählung Jakob seine spätere Frau Rahel kennen. Er liebte sie von diesem Augenblick an bis zu ihrem Tod, ja darüber hinaus. Jakob und Rahel, das ist auch nach biblischem Bericht die wahre Geschichte einer großen Liebe, wie sie das Leben geschrieben hat. Eine Liebe, wie sie im Buch steht. Wirklich: im Buch der Bücher, in der Bibel lesen wir sie.

Die Geschichte beginnt wundervoll. Sie kommt unserer Sehnsucht entgegen, dass Liebe etwas Reines sein soll, etwas Ungestörtes und Ungetrübtes. Wer sie nun aber weiterverfolgt, sieht sich in den Erwartungen nach berieselnder Unterhaltung arg getäuscht. Der großen Liebe wartet ein harter Alltag mit übergroßen Beschwernissen.

Jakob muss seinem zukünftigen Schwiegervater Laban sieben Jahre für seine begehrte Tochter Rahel dienen. Eine mühsame lange Zeit muss er arbeiten und warten. Als endlich die Hochzeitsnacht naht, schickt der schlaue Laban statt Rahel deren weniger attraktive Schwester Lea in das dunkle Schlafgemach. Jakob, der einst seinem Vater den Erstgeburtssegen erlistet hatte, wird nun selber zum Überlisteten. Er realisiert den Betrug erst am Morgen.
Nun muss er weitere sieben Jahre dienen, arbeiten und warten für seine geliebte Rahel. Er stellt sich seinem Schicksal und ist schließlich der Mann beider Schwestern. Sie kämpfen mit allen Mitteln um seine Liebe. Jede will mehr Kinder von ihm, und sie schrecken nicht davor zurück ihre Mägde Bilha und Silpa als Leihmütter einzusetzen.

Wie entsetzlich müssen diese Spannungen für alle Beteiligten gewesen sein! Diese Übervorteilungen, Neid und Eifersucht. Die ganze Zeit über hält das an, bis schließlich Rahel auf einer Wanderung bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin stirbt. Sie wird an der Strasse nach Efrata, dem heutigen Bethlehem, begraben.

Jakob und Rahel - die Geschichte einer grossen Liebe, die nie aufhörte zu sein. Eine Liebe, die trotz allem Entsetzlichen gelebt wurde, Frucht getragen hat und in der Weltgeschichte für Millionen von Liebenden zum Leitstern wurde - auch wenn, oder gerade weil sie nicht alltäglich war.

Warum vernehmen wir von dieser Geschichte in einer Sonntagspredigt, und dann erst noch zur Adventszeit? Weil sich unser Glaubensbuch nicht schämt, sie realistisch darzulegen, mit all ihren Höhen und Tiefen, mit allem Schönen und Abgründigen. Ist es in unserem Leben manchmal nicht auch so, dass da Menschliches, Allzumenschliches an unseren Kräften zehren möchte, aber dass das Leben auch immer wieder zu einem Fest werden darf?
Ich erzähle diese Geschichte, weil Gott durch alles Menschliche hindurch gegenwärtig und wirksam ist. Und weil trotz allen menschlichen Schwächen immer auch mit ihm gerechnet werden kann! Wenn dies nur Mustermenschen dürften, dann wäre die allergrößte Liebesgeschichte, nämlich die von Gott mit uns Menschen, schon lange abgeschlossen, ja dann müssten wir heute nicht einmal Gottesdienst feiern miteinander.
Die Bibel zeichnet Menschen wie Du und ich, und manchmal tragen wir sogar ihre Namen. Diese Menschen der Bibel, das könnten wir sein, wir mit unseren Hoffnungen und Sehnsüchten, mit unserem Glauben und unserer Liebe, mit unserem Tatendrang und unserer Schwachheit, wir mit unserer Verletzlichkeit und Fehlerhaftigkeit, mit unseren Wegen und Irrwegen.
Und wenn das so ist, dann haben wir denselben Gott wie sie, der sich uns in Jesus Christus ein für alle mal gezeigt hat als der Gott der Liebe und der Liebenden. Wir haben einen Gott, der uns sucht, der uns dort aufsucht wo wir uns befinden. Einen Gott, der uns kennt und uns beim Namen ruft.

Hörst Du Deinen Namen? Wo bist Du? Was tust Du mit Deiner Zeit? Ich, das Leben, komme zu Dir und will bei Dir wohnen. Ich, Dein Gott, habe Dich schon lange gekannt. Ich will Dich füllen mit meiner Kraft und Liebe - durch alles hindurch, was quer steht, durch alle Unzulänglichkeiten und Widerwärtigkeiten hindurch. - Hörst Du meine Stimme? Folge ihr durch die wirren Pfade der Welt, und ich werde Dir eine neue Welt zeigen, in der es den Tod nicht mehr gibt, kein Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Es ist die Welt Gottes, sein Reich der Liebe, des Lichts und des ewigen Leben.

Liebe Mitchristen, diese neue Welt, zu der wir berufen sind, ahnen wir auf Erden schon in Augenblicken der Vergebung und der Liebe, des Festes und der Versöhnung. Wir sind ihr nahe, wenn wir "Ja" sagen können zu unserem Leben und unserem Weg, den wir oft nicht selbst gewählt haben.
Wir sind Gott nahe, wenn wir sein "Ja" zu uns zurücksagen können zu ihm, ja wenn wir nach allem Wehren und Abwehren, nach allem Kämpfen zu ihm sagen können: "Es ist gut. Du hast mich gesucht und ich habe mich finden lassen von Dir. Das ist mein Leben, mein unverwechselbares Leben. Es ist mein Leben mit Dir. Und ich liebe es."


Die Eingangsgeschichte stammt von Roland Schertler:
Weblink: http://www.deutsche-liebeslyrik.de/anderes/rahel.htm


last update: 03.08.2015