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Zeit und Zeitpunkt

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Colmar am 28.10.2002 © Jakob Vetsch



Wie die Zeit gerechnet wird

In Japan rechnet man bis heute die Zeit nach den Regierungsjahren des jeweiligen Kaisers. Im Alten Testament war das auch so. Die Zeitangaben in den Büchern der Könige und der Chronik sind immer auf den regierenden König bezogen.
Wir Christen rechnen die Jahre von Christi Geburt an. Derjenige, der diese Jahre im Altertum einst für uns abgezählt hat, irrte wohl um wenige Jahre. Aber das spielt weiter keine grosse Rolle.
Dennoch ist unsere Zeitrechnung ein bisschen anders als bei den Japanern, auch wenn Christus unser König ist: Wir rechnen nicht von der Thronbesteigung unseres Herrn an (das wären Auferstehung oder Himmelfahrt Christi), sondern von seiner Geburt. Nicht Herrschafts-, sondern Lebenszeit. Von der Geburt an. Da kommt Gott in seinem Sohn zu den Menschen. Das ist die Wende der Zeiten. Und diese Wende ereignet sich nicht erst mit dem öffentlichen Auftreten Jesu oder seiner Thronbesteigung, sondern schon mit seiner Geburt, da Gott mit seiner Güte zu uns Menschen kam.


"Meine Zeit steht in deinen Händen." (Übersetzung nach Martin Luther)
"In deiner Hand steht mein Geschick." (Übersetzung nach Ulrich Zwingli)
Psalm 31,16

"Unser Leben währet siebzig Jahre,
und wenn es hoch kommt, sind es achtzig Jahre,
und das meiste daran ist Mühsal und Beschwer,
denn eilends geht es vorüber, und wir fliegen dahin."
Psalm 90,10

"Alles hat eine bestimmte Zeit, 
und jedes Vornehmen unter dem Himmel hat seine Zeit. 
Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit; 
Pflanzen hat seine Zeit, und das Gepflanzte Ausreissen hat seine Zeit; 
Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit; 
Abbrechen hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit; 
Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; 
Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit; 
Steinewerfen hat seine Zeit, und Steinesammeln hat seine Zeit; 
Umarmen hat seine Zeit und vom Umarmen Sichfernhalten hat seine Zeit; 
Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; 
Aufbewahren hat seine Zeit, und Fortwerfen hat seine Zeit; 
Zerreissen hat seine Zeit, und Nähen hat seine Zeit; 
Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit; 
Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit; 
Krieg hat seine Zeit, und Frieden hat seine Zeit. 
Was für einen Gewinn hat der Schaffende bei dem, womit er sich abmüht? Ich habe das Geschäft gesehen, welches Gott den Menschenkindern gegeben hat, sich damit abzuplagen. Alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit; auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt, ohne dass der Mensch das Werk, welches Gott gewirkt hat, von Anfang bis zu Ende zu erfassen vermag."
Prediger 3,1-11

Des Menschen Engel ist die Zeit.
Friedrich Schiller

Tempora mutantur, nos et mutamur in illis "Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen" (nach einem Ausspruch des fränkischen Kaisers Lothar I.)

Die Zeit ist unendlich lang und ein jeder Tag ein Gefäss, in das sich sehr viel eingiessen lässt, wenn man es wirklich ausfüllen will.
Johann Wolfgang von Goethe

Ich bin überzeugt, dass wir viel zu wenig langsam sind.
Robert Walser

Nun ist es Zeit wegzugehen:
für mich, um zu sterben,
für euch, um zu leben.
Wer von uns dem Besseren entgegen geht,
ist jedem verborgen ...
Sokrates, 470-399 v. Chr.

Die richtige Handlung zur rechten Zeit
hat immer des Menschen Herz erfreut.
Jakob Vetsch, 22.11.2006



Der Zeitpunkt

(Die gute Gelegenheit) ergibt sich, wie wir sagen, sie kommt von sich aus, und wer sie nicht verpassen will, muss aufmerksam warten. Gelegenheiten sind kommende Augenblicke, die - wenn sie verpasst werden - von der Zukunft direkt in die Vergangenheit verschwinden, ohne die Gegenwart berührt zu haben. Ein Kairos kann auf verschiedene Weisen verfehlt werden: Was sich zuerst nahe legt, das Verschlafen einer Gelegenheit, die abgestumpfte, passive Unaufmerksamkeit, ist nicht einmal am häufigsten. Häufiger ist wohl, dass der entscheidende Augenblick durch Hyper-Aktivität verpasst wird. Die Beschäftigung mit eigenen Projekten und das planende Verfügen über die Zukunft lässt gar keine Zeit zur Aufmerksamkeit für das Kommende, das Unverfügbare. 

Der Kairos ist ein Ereignis. Die Etymologie zeigt: Das "Eräugnis" ist für das sehende Auge bestimmt, nicht für die schaffende Hand. Es muss gesehen werden, nicht gemacht. Wer nicht auf Ereignisse warten will, macht eben Events (...). Das hat mindestens zwei Nachteile: Events werden die Signatur des Gemachtseins nie los, sie tragen das Gepräge ihrer Macher. Und im Getriebe der gemachten Events geht die Ruhe verloren, die es zum Warten auf Ereignisse braucht. Wer zu sehr mit der Frage beschäftigt ist, womit er die Zeit ausfüllen wolle, verliert leicht die Frage aus dem Blick, was an der Zeit sei.

Prof. Dr. Hans Weder in einer Rede, gehalten am Dies academicus 2000 der Universität Zürich



Predigt: Alles hat seine Zeit


last update: 16.03.2016